Wer versucht es nicht immer wieder: raus aus den alten Denkmustern, raus aus der Fülle von Problemen, raus aus dem Stress des Alltags. Der Versuch allein ist zu wenig. Man muss es auch tun. Gerald Hüther sagt Ihnen, wie das geht.
Zunehmende Gewalt, Flüchtlingsströme, Verelendung, religiöser Fanatismus … die Menschheit scheint sich ins Out zu manövrieren. Die Ursache liegt in unserer eindimensionalen Art zu denken und zu fühlen. Dagegen ziehen Bildungsrefomer wie Richard David Precht, Jesper Juul und Gerald Hüther zu Felde. Hüther, der in den 70er- Jahren mit einem selbst gefälschten Visastempel aus der DDR floh, meinte, dass ihm die Flucht nicht so viel Mut abgefordert hatte wie das Überwinden der dort übernommenen Denkmuster.
Denkmuster überwinden – das ist auch heute notwendig! Und wie? Mit Begeisterung! Durch das Zusammenspiel von Herz und Hirn können wir unsere Potenziale entfalten, Neues ausprobieren. Das Gehirn kann sich das ganze Leben lang verändern – dies hat der Neurobiologe Gerald Hüther bewiesen. Er bringt wichtige Erkenntnisse durch seine direkte Art unmissverständlich auf den Punkt.
Vor Kurzem wurde Ihr erstes selbst gesprochenes Hörbuch mit dem Titel „Männer“ veröffentlicht. Diese gelten ja oft als gefühllos und für Veränderungen nicht so aufgeschlossen. Gibt es dafür eine neurobiologische Grundlage?
G. H.: Das Buch trägt den vollen Titel: „Männer – Das schwache Geschlecht und sein Gehirn“, und darin beschreibe ich, weshalb Jungen im Durchschnitt konstitutionell schwächer auf die Welt kommen und deshalb im Durchschnitt stärker als Mädchen im Außen nach Halt suchen. Aus diesem Grund wird die Suche nach eigener Bedeutsamkeit innerhalb einer Gemeinschaft für Männer wichtiger. Dieses Bemühen führt bei vielen dazu, dass sie den Kontakt zu ihrem eigenen Körper und zu ihren Gefühlen leichter zu unterdrücken bereit sind. Wenn ihnen das gelingt, sind sie möglicherweise sehr erfolgreich, aber in sich selbst kaum beheimatet, ihr Körper und ihre Gefühle werden ihnen deshalb zunehmend fremd.
Gerade die Gefühle spielen ja eine sehr große Rolle beim Umdenken. Sie sagten einmal: „Wir brauchen eine Potenzialentfaltungsgesellschaft, die mit Begeisterung lernt!“ Warum sind positive Emotionen so wichtig?
G. H.: Das menschliche Gehirn wird ja nicht von irgendwelchen genetischen Programmen zusammengebaut, es strukturiert sich anhand der Lösungen, die eine Person beim Heranwachsen für die ihr begegnenden oder aufgebürdeten Probleme findet. Wer ein Problem hat und dann eine Lösung findet, ist froh. Auf geistiger Ebene nennen wir das den „Aha-Effekt“. Und immer, wenn das passiert und wir uns über uns selbst freuen, werden von den Nervenzellen der emotionalen Zentren über deren weitverzweigten Fortsätze sogenannte neuroplastische Botenstoffe freigesetzt. Und die wirken so ähnlich wie Dünger auf die zur Lösung aktivierten neuronalen Verschaltungen. Die werden dann immer stärker ausgebaut und immer besser.
Also lernen wir durch Freude. Der Buddhismus hingegen sieht im Schmerz das Mittel zur Bewusstwerdung. Ist das nicht ein Widerspruch?
G. H.: Wenn Sie statt „Schmerz“ den Ausdruck „tief gehendes Problem“ verwenden, stimmt es ja: Hätten wir nicht diese Probleme, würden wir auch nicht lernen, wie sie zu lösen sind. Und uns dessen oder uns selbst bewusst werden, könnten wir dann auch nicht.
Die Stoiker lehren die berühmte „stoische Ruhe“, der Buddhismus ruft zu Gelassenheit auf: Ist die Beherrschung der Gefühle überhaupt „gesund“?
G. H.: Die Beherrschung von Gefühlen ist etwas anderes als deren Unterdrückung. Vielleicht ist der Begriff des Beherrschens ungünstig. Gemeint ist damit die Fähigkeit, seine Affekte zu regulieren. Das zählt zu den komplexesten Leistungen des menschlichen Gehirns. Diese Fähigkeit ist nicht angeboren, sie muss erlernt werden. Aber lernen kann das ein Kind nur von Erwachsenen, die das selber können. Diese erkennt man daran, dass sie selbst in emotional sehr aufwühlenden Situationen immer noch einigermaßen gelassen reagieren können.
Ja, das „Regulieren“ der Gefühle ist für das menschliche Zusammenleben unerlässlich. Für Sie ist das Gehirn in erster Linie ein „soziales Organ“. Ist der Altruismus neurobiologisch angelegt?
G. H.: Alles, was wir als Einzelne wissen und können, haben wir uns nur mithilfe Anderer aneignen können. Ohne diese Anderen hätten wir uns gar nicht entwickeln können. Deshalb ist auch die Vorstellung, der Mensch sei ein Einzelwesen, absurd. Wir sind alle einzigartig, weil jeder von uns in der Beziehung zu anderen auch unterschiedliche Erfahrungen gemacht – und in seinem Hirn verankert – hat. Wir sind also von Anfang an und bis in die Wurzel unseres Seins mit anderen Menschen verbunden. Wenn wir diese Verbundenheit spüren können, geht es uns gut. Wenn wir davon abgeschnitten werden oder uns daraus abzulösen versuchen, geht es uns auf Dauer nicht gut. Wie sehr jemand, wie Sie es nennen „altruistisch“ handelt, ist also das Ergebnis der Erfahrungen, die die betreffende Person mit Anderen gemacht hat, machen musste oder machen durfte.
Nicht nur die Beziehung zu Anderen ist wichtig, auch die zu sich selbst. Sind regelmäßige Meditationen nützlich, um seine Potenziale besser entfalten und umdenken zu können?
G. H.: Wenn jemand durch Meditation besser zu sich selbst oder überhaupt wieder zu sich zurückfindet, ist das sicher günstiger, als weiter bewusstlos in der Hektik des Alltags zu versinken. Wofür sie oder er die auf diese Weise gewonnenen Möglichkeiten dann aber nutzt, ist eine andere Frage.
2014 haben Sie ja ein Sabbatical (Auszeit) eingelegt, um – wie Sie es bezeichnen – „zu sich selbst zurückzufinden“. Wie war diese Erfahrung und welche neuen Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
G. H.: Ich habe endlich wieder einmal in Ruhe nachgedacht und versucht, nicht in der Beschreibung der Phänomene stecken zu bleiben, sondern deren Ursachen zu ergründen. Am Ende ist daraus ein neues Buch entstanden („Etwas mehr Hirn, bitte“, eben erschienen) und das Konzept für eine genossenschaftlich organisierte Akademie für Potenzialentfaltung (Anmerkung der Redaktion: siehe unter www.akademiefuerpotentialentfaltung.org).
Sie sind davon überzeugt, dass zur Potenzialentfaltung positive Gefühle wie Begeisterung und Freude unerlässlich sind. Viele Menschen sind jedoch zunehmend von Ängsten, Sorgen, Groll und Ärger geplagt. Können Sie einen Rat geben, wie man sich von seinen negativen Gefühlen befreit?
G. H.: Ich bin kein Ratgeber und ich denke auch, dass wir aufhören sollten, uns ständig irgendwelche Ratschläge zu erteilen. Aber wenn ich von irgendwelchen negativen Gefühlen geplagt werde, versuche ich herauszufinden, woher sie kommen. Meist entstehen sie deshalb, weil etwas nicht nach meinen Vorstellungen läuft. Und dann habe ich die Möglichkeit, entweder die Welt an meine Vorstellungen anzupassen oder meine Vorstellungen so zu ändern, dass sie besser in die Welt passen. Letzteres ist schwieriger, aber bisher bin ich damit besser gefahren.
Das ist wohl auch der Grund für Ihre zuversichtliche und positive Ausstrahlung …
G. H.: Hmm …, eigentlich kommt so jedes Kind auf die Welt: offen, lebenslustig, zugewandt und neugierig. Es geht uns nur allen leider irgendwann verloren. Manchen früher, manchen später. Und manche finden ihre ursprüngliche Leichtigkeit auch irgendwann einfach wieder. Aber das passiert selten von ganz allein, das muss man für erstrebenswert halten, also wollen.
Noch einmal zurück zu Ihrer Potenzialentfaltungsgesellschaft. Sie sind ja davon überzeugt, dass wir heutzutage kein Erkenntnisproblem haben, sondern ein Umsetzungsproblem. Welchen Tipp können Sie den Lesern mit auf den Weg geben, um die eigenen Potenziale zu aktivieren?
G. H.: Sie könnten ja ab sofort einmal versuchen, niemals wieder einen anderen Menschen als Objekt (Ihrer Vorstellungen und Ideen, Ihrer Bewertungen und Diagnosen, Ihrer Belehrungen und Unterweisungen, Ihrer Maßnahmen und Anordnungen, übrigens auch Ihrer Bewunderung) zu behandeln. Dann wäre es Ihnen möglich, dieser anderen Person als Subjekt zu begegnen. Von „Ich“ zum „Du“, wie Martin Buber das nennt. Versuchen Sie das Mal praktisch umzusetzen, nur einen Tag lang. Sie werden diese anderen Personen, und auch sich selbst, anschließend nicht mehr wiedererkennen. Es führt zu einer beglückenden Verwandlung – aber eben nicht, solange Sie nur darüber reden. Sie müssten es selbst ausprobieren.
Das Interview führte Gudrun Gutdeutsch
Prof. Dr. Gerald Hüther
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