Manche tun es dreißig Stunden ohne Unterbrechung, um ins Guinness-Buch der Rekorde zu kommen. Durchschnittlich werden dabei zwischen zwei und sechs Kalorien pro Minute verbraucht. In Dubai wird man, wenn man es öffentlich tut, eingesperrt. Und manche machen es mit der Nase, weil ihnen der Mund dafür zu kannibalisch ist. Gemeint ist: das Küssen.
Der Kuss ist kein alleiniges Privileg von Liebespaaren, eigentlich ist er ziemlich widersprüchlich: So finden wir im Christentum den „Kuss des Herrn“, aber auch dessen Erwiderung durch Judas, in den Märchen den Erweckungskuss des Dornröschens und den Todeskuss der Dementoren bei Harry Potter. Der Kuss zählt zu den ursprünglichsten Ausdrücken des Menschenseins. Er ist zugleich archaisch und eine kulturelle Handlung. Seine tiefere Symbolik scheint aber in Vergessenheit geraten zu sein.
Wer die Türe zur geheimnisvollen Welt des Kusses aufstößt, findet eine Unzahl von Kuss-Arten: der Kuss der Mutter, des/der Geliebten, des Freundes, der Kuss als zeremonieller Akt, Begrüßungsküsse und Küsse der Ehrerbietung. Man küsst den Altar, das Heiligtum, man küsst die Braut und so mancher Künstler hofft, von der Muse geküsst zu werden. Von gleichgültig-mechanisch über leidenschaftlich bis hin zu bedingungsloser Hingabe reicht die Bandbreite der Intensität des Kusses.
Die Römer unterschieden zwischen drei Arten von Küssen:
– dem oscula oder rituellen Kuss,
– dem basia oder dem Kuss als Ausdruck der Zuneigung und Freundschaft und
– dem suavia oder erotischen Kuss.
So gut wie jede Körperregion kann geküsst werden, dabei offenbart sich eine eigene „Kuss-Geografie“: Der Kuss auf die Stirn gilt als Segensbezeugung, auf die Wangen wird zur Begrüßung geküsst, die Lippen drücken Liebende und Seelenverwandte aufeinander, der Ring am Finger oder der Saum des Gewandes wird zur Ehrerbietung an den Mund geführt, im Mittelalter wurden die Schenkel des Lehnsherrn von ihrem Lehensmann sowie auch der päpstliche Fuß als Zeichen der Unterwürfigkeit geküsst. Und schließlich küsst der Besessene sprichwörtlich den Boden unter den Füßen des Objekts seiner Begierde.
Der französische Psychoanalytiker Charles Melman stellt sich die nüchterne Frage, „… warum das Aufeinanderpressen von Körperöffnungen, die jeglichen Geheimnisses entbehren und deren primärer Zweck die Nahrungsaufnahme und das Sprechen ist, Liebende in eine solche Ekstase versetzt, seien Gebiss und Hygiene auch mangelhaft?“. Sigmund Freud sieht im Kuss gar ein gehemmtes Fressen, so wie im Lachen ein gehemmtes Zähnefletschen.
Auch wenn uns der Kuss heute natürlich erscheint, ist er in hohem Maße kulturell geprägt. In der Form, wie wir ihn im Westen kennen, war er den ursprünglichen Bewohnern Afrikas, Amerikas, Australiens und Ozeaniens unbekannt, auch in China und Japan war er Jahrhunderte lang unüblich. So wie der Nasenkuss der Einwohner Madagaskars oder der Inuit die Europäer amüsierte, so reagierten viele indigene Völker mit Unverständnis auf den westlichen Kuss. Nicht zuletzt lag einer der Gründe darin, dass es Bräuche gab wie zum Beispiel das Dehnen der Lippen mit Holzscheiten, die das Küssen nicht gerade praktikabel machten. Bei einigen herrschte auch die Befürchtung, dass man die Seele des Partners beim Küssen versehentlich verschlucken könnte.
Dennoch galt der Kuss bei vielen Völkern als äußerst intime Handlung, intimer noch als der Geschlechtsakt. So erstaunt es nicht, dass öffentliches Küssen in manchen Ländern auch heute noch bestraft wird und dass das Küssen im Angebot von Prostituierten meist nicht enthalten ist. Egal, ob man sich nun die Nasen reibt, die Lippen aufeinan derpresst oder, wie bei einigen Stämmen der Aborigines, Neuankömmlinge mit dem eigenen Schweiß einreibt – immer hat es die Bedeutung, etwas von sich herzugeben und mit dem anderen in Verbindung zu treten
Der Mund spielt beim Küssen eine zentrale Rolle und ist ein mehrdeutiges Organ. Neben der Nahrungsaufnahme besitzen wir durch ihn auch die Fähigkeit zu sprechen. Im alten Ägypten gab es ein und dasselbe Wort für „essen“ und „küssen“. Beides hat mit dem Sich-etwas-Einverleiben zu tun – das eine physisch, das andere seelisch.
Andererseits ist der Mund das Organ, durch das unser Atem strömt, laut dem griechischen Dichter Äsop sowohl der physiologische Atem, genannt fatus, als auch der Lebensatem oder Geist, spiritus. Beim Kuss tauschen wir Speichel und Atemluft aus, wir atmen den Luftstrom des Partners, seinen Lebensatem ein. Der Kuss ist eine Begegnung von Körper und Seele. Der Philosoph und Soziologe Edgar Morin schreibt: „Im Kuss […] begegnen wir auch Eros und Psyche. In der archaischen Mythologie ist der Atem der Sitz der Seele; andererseits befindet sich die primäre, mit Absorption und Assimilation verbundene Sensualität im Munde. Der Kuss auf den Mund ist ein Akt doppelter anthropophagischer Konsumation, ein Akt der Absorption fleischlicher Substanz und des Seelenaustausches; der Kuss ist Vereinigung und Kommunikation von Psyche und Eros.“ Unser Mund ist das Organ der Aufnahme von Nahrung, aber auch der Vereinigung von Seelen.
Die wissenschaftliche Erforschung des Kusses nennt sich Philematologie. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass bei einem Zungenkuss mindestens 29 Muskeln, davon alleine 17 in der Zunge, Hunderte von Bakterien und Millionen von Keimen beteiligt sind. Der Mund ist jene erogene Zone, die aufgrund der menschlichen Anatomie dem Gehirn am nächsten ist. Daher gilt es als wissenschalich erwiesen, dass es kaum Intimeres und Beglückenderes als einen Kuss gibt.
Ein Kuss kann eine Kaskade von Chemikalien und neuronalen Botschaften auslösen, die Wohlgefühl bis zu sexueller Erregung und elektrischer Spannung übermitteln. Von den zwölf wichtigsten Hirnnerven sind beim Küssen fünf aktiv und leiten alle Informationen wie Temperatur, Geschmack, Geruch etc. an die Großhirnrinde weiter. Dieser Cortex stellt alle wahrgenommenen Informationen wie auf einer Art sensorischen Landkarte dar. Darauf nehmen die Lippen im Vergleich zu ihrer echten Größe unverhältnismäßig viel Raum ein.
Beim Küssen kommt es zu einem komplizierten Austausch von olfaktorischen Informationen, die den Menschen – angeblich – in die Lage versetzen sollen, instinktiv zu entscheiden, wie gut sie zusammenpassen. Küsse sollen sogar darüber Aufschluss geben können, inwieweit der Partner bereit ist, sich der Kindererziehung zu widmen. Es stellte sich auch heraus, dass sich die Anziehungskraft eines potenziellen Partners verüchtigte, wenn dessen Küsse als unbefriedigend empfunden wurden.
Die Welt der Kunst strotzt förmlich voller Küsse. Ob in Stein gehauen, mit Farbe auf Leinwand gebracht, in Bild, Wort und Ton – der Kuss war immer Thema und wurde in Stil und Geschmack seiner Zeit dargestellt. Jahrhundertelang spielte der Kuss hauptsächlich in der religiösen Kunst eine Rolle. In Indien findet sich ein berühmtes Relief aus dem 8. Jahrhundert, auf dem ein sich küssendes Paar dargestellt ist. Das hinduistische Kunstwerk, das im Felsentempel von Kailasa von Ellora gefunden wurde, zeigt den Gott Shiva und seine Shakti in einer innigen Umarmung, die das Streben nach Einheit von männlich-weiblich, aber vor allem von Geist und Materie ausdrückt. Nicht selten haben Küssende in der Kunstwelt einen Skandal ausgelöst: Als Auguste Rodin seine Skulptur „Der Kuss“ präsentierte, war das nichts für die schwachen Nerven seines Publikums, zeigte er das Paar doch nicht idealisiert, sondern als naturalistische Figuren mit prickelnder Sexualität.
Auch in der Musik, egal ob Klassik, Pop, Musical oder Rock, dreht sich nicht selten alles um den Kuss. Als klassisches Beispiel wird in Wagners romantischer Oper „Tristan und Isolde“ von der tragischen Liebesgeschichte des Ritters Tristan und der Prinzessin Isolde berichtet, die nach einem versehentlich zu sich genommen Liebestrank in einen ekstatischen Kuss versinken, der ihr Schicksal bis zum Tode besiegelt. Die faszinierende Wirkung des Kusses ist auch ein Hauptelement in der Literatur und wird seit undenklichen Zeiten auf alle möglichen und unmöglichen poetischen Arten zum Ausdruck gebracht, sei es der seelenverbindende, sich im Tode befreiende oder der lang ersehnte Kuss. Fazit: Am Kuss kommt in der Kunst keiner vorbei!
Die Rolle des Kusses in Politik und öffentlichem Leben lässt sich bis in die Antike verfolgen. Herodot berichtete, dass man den sozialen Rang von Menschen an der Art ihrer Begrüßung erkennen konnte: der Mundkuss bei Gleichrangigen, der Wangenkuss bei geringen Standesunterschieden und der Kniefall bei Untergebenen. Im Mittelalter kommt dem Kuss eine wichtige gesellschaftspolitische Bedeutung zu. Er war gleichbedeutend mit einem Pakt oder Vertrag. Um den Treueschwur zwischen Herrn und Lehensmann zu besiegeln, gaben sich beide einen Kuss auf den Mund.
Aber auch in der jüngeren Vergangenheit spielt der Kuss in der Politik eine Rolle, war er doch ein im Kommunismus gelebtes Ritual, wenn auch nicht immer als Ausdruck der Gesinnungseinheit, sondern manchmal aus Gründen politischer Taktik eingesetzt: So küsste etwa Alexei Kossygin 1968 seinen Genossen Alexander Dubcek wenige Tage, bevor er sowjetische Panzer nach Prag schickte. Für Irritationen sorgten Nikita Chruschtschow und manch andere russische Politiker, wenn sie bei protokollarischen Besuchen ihre Kontrahenten aus dem Westen auf den Mund küssten.
Papst Johannes Paul II. war dafür bekannt, dass er sich, wenn er in einem fremden Land ankam, auf den Boden warf und die Erde küsste (oder auch das Rollfeld). Dies sollte Achtung und Demut ausdrücken, konnte aber auch als symbolische Inbesitznahme verstanden werden. Als Columbus und seine Kameraden 1490 den Strand von San Salvador betraten, sollen sie ebenfalls ehrerbietig den Boden der „Neuen Welt“ geküsst haben. Heilige Gegenstände zu küssen, zählt zu den ältesten und archaischsten Ritualen. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass man über den Kuss mit dem heiligen Gegenstand verschmilzt und dessen Energie in sich aufnimmt. Auch der Kuss zwischen Priestern und Teilnehmern nach religiösen Zeremonien und Initiationsritualen galt als Zeichen der Besiegelung und Aufnahme des Probanden in die neue Gemeinschaft. Der Kuss auf den Mund war im früheren Christentum ein wichtiger Bestandteil der heiligen Messe. Der sogenannte Friedenskuss geht auf die Apostel Petrus und Paulus zurück, der vollkommene Versöhnung und Einheit ausdrücken sollte.
Doch nicht nur die Lebenden, auch die geliebten Verstorbenen zu küssen, um sich damit von ihnen zu verabschieden, zählt zum kollektiven Ritualschatz der Menschheit. Dem Kuss wird aber auch eine belebende und heilende Kraft zugesprochen. Wenn die Mutter die Wunde ihres weinenden Kindes küsst, um den Schmerz zu lindern, dann steckt darin eine kleine Magie. In heiligen Texten wird nicht selten von Erweckungsphänomenen vermeintlich Toter berichtet, die über den Mund wiederbelebt werden.
In den Märchen tauchen häufig Küsse auf, die eine heilende und transformierende Wirkung haben. Das Märchen vom Dornröschen steht exemplarisch für die Fähigkeit des Kusses, bösen Zauber und Unheil abzuwenden, indem der ewige Schlaf abgewendet wird und die Schöne ins Leben zurückkehrt. Der Kuss vermag auch wundersame Verwandlungen herbeizuführen wie die des hässlichen Frosches in einen Märchenprinzen.
Der Kuss ist ein Stück Magie. Er ist dem Menschen eigen, denn Tiere, mit Ausnahme einiger Menschenaffen, können nicht küssen. Im Kuss wird etwas übertragen, an einen anderen weitergegeben und von ihm aufgenommen. Wir geben im Kuss ein Stück von uns selbst. Es verbinden sich durch ihn nicht nur die Körper, sondern vor allem die Seelen. „Was ist schon ein Kuss? Ist es nicht der glühende Wunsch, einen Teil des Wesens, das man liebt, einzuatmen …?“, heißt es vom berühmt-berüchtigten Giacomo Casanova.
Und Sir Philip Sidney, ein englischer Schriftsteller des 16. Jahrhunderts, versuchte diese Magie in folgenden Worten ein zu fangen:
Erfreuen wir uns jeden Tag am Kuss,
am herzlichen, innigen, liebevollen und echten
und geben wir ihn genauso weiter,
sodass sich unsere Seelen begegnen können!
Text: Beatrice Weinelt
Quelle: Abenteuer Philosphie (Nr. 135)
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