Dann wäre dies lebensbedrohlich. Beinahe so drastisch schildert dies Axel Horstmann in einer Ringvorlesung mit dem Titel „Arbeit am Mythos“ an der Universität Göttingen. Denn letztlich erzählt jeder Mythos von der Welt und vom Leben des Menschen in dieser Welt. Und damit ist der Mythos sinnstiftend. Er erklärt uns die Welt und gibt uns Orientierung.. Ob Sie nun an den biblischen Mythos von Adam und Eva glauben oder nicht, so ist er doch dazu geeignet, uns Sinn und Orientierung zu geben: Der Mensch gilt als ein aus dem Urparadies Vertriebener, weil er von der Frucht des Baumes der Erkenntnis gegessen hat. Und der Weg führt über den Kreuzestod und die Auferstehung zurück in dieses Paradies. Vereinfacht philosophisch gedeutet lebten wir ursprünglich in einem paradiesischen Zustand, aber unbewusst. Erst mit dem Erwachen des Intellektes wurden wir uns der Dualität von Gut und Böse bewusst und damit gezwungen, uns frei zu entscheiden. Der Preis dieser Freiheit ist das Kreuz des Lebens, ständig befinden wir uns an Wegkreuzungen. Und wir irren so lange, bis wir das Kreuz überwunden haben und in einer anderen Dimension – im Christentum Paradies, im Islam Dschanna, im Buddhismus Nirwana, im Hinduismus Moksha, im alten Ägypten Amenti genannt – wiederauferstehen.
Der Drache in der griechischen und römischen Antike gilt als Mythos schlechthin (Quelle: https://goo.gl/images/BQ6iiW)
So betitelte der Philologe Wilhelm Nestle (1865-1959) sein 1940 erschienenes Werk. Darin postulierte er die endgültige Befreiung vom mythischen Denken durch den Logos und verglich dies mit dem unausweichlichen Hinauswachsen des heranreifenden Menschen über die kindliche Vorstellungswelt.
Axel Horstmann greift das ewige Ringen zwischen Mythos und Logos und die generelle Darstellung dieser beiden als antithetische Pole des menschlichen Geisteslebens auf. Letztlich sind alle Versuche, mythisches und rationales Denken als unvereinbar gegenüberzustellen beziehungsweise die Ratio als endgültigen Sieger über den Mythos darzustellen, gescheitert: Wie zum Beispiel die Entlarvung der Mythen mithilfe der Betrugstheorie; oder die Mythenforschung, die davon ausgeht, dass Mythen der geschichtlich notwendigen, inzwischen aber längst überwundenen Kindheitsstufe der Menschheit zuzuordnen sind; oder die von Autoren wie Ernst Topitsch formulierte Ideologiekritik, die mythische Modelle als vorwissenschaftliche, aus primitivem und archaischem Erbgut stammende und insoweit für Wissenschaft und Gesellschaft durchaus bedrohliche Gebilde ansehen. Als wirklich bedrohlich musste aus dieser Perspektive folgende Entdeckung empfunden werden: Dass der Mythos keineswegs in eine sogenannte vorwissenschaftliche Zeit verbannt werden kann, sondern sich als ein höchst wirksames Gegenwartsphänomen erweist. Dies zeigten Sigmund Freud oder C. G. Jung auf der individuellen Ebene und Georges Sorel auf der sozialen Ebene, als dieser die Wirkung von Mythen auf die Massen entdeckte, wie jene vom Reich Gottes, der Revolution oder des Generalstreiks.
Da also der Mythos nach wie vor wirksam ist, geht es eher um die Frage, inwieweit es sich dabei tatsächlich um eine Bedrohung oder vielmehr um ein unverzichtbares Element menschlichen Lebens handelt. Und inwieweit Versuche einer totalen Entmythologisierung überhaupt Sinn machen oder nicht ihrerseits lebensbedrohend wirken. Diese Frage beantwortet Axel Horstmann mit dem Ausruf „Auf zu den Mythen!“ Er plädiert für eine Abkehr davon, Mythos und Wissenschaft in eine intellektuelle Rangordnung zu bringen, sondern stellt sie als gleichberechtigt und einander ergänzend gegenüber. Und er streicht die vielfältigen Aufgaben heraus, die der Mythos erfüllt.
Dynastische Mythen und Heldensagen auch in der slawischen Mythologie (Quelle: https://goo.gl/images/0x3N8D)
Den Mythos einfach als eine Erzählung zu definieren, greift zu kurz. Nach dem deutschen Philosophen Hans Blumenberg (1920-1996) stellt der Mythos eine Grundform dar, „Welt und Welterleben einzufangen und zur Aussage zu bringen“. Dies ist für Blumenberg Voraussetzung dafür, dass der Mensch in einer ihm eigentlich fremd-abweisenden Wirklichkeit heimisch werden und sein Bedürfnis nach Sinnfindung erfüllen kann. Mythen haben also demnach eine bedeutende Funktion sowohl für das Individuum als auch für eine Gesellschaft: Einerseits können sie die Welt erklären, andererseits Handlungen bewerten und legitimieren. Genau hier beginnen aber auch mögliche problematische Folgen, wenn Mythen propagandistisch eingesetzt werden, um Menschen oder ganze Gesellschaften zu manipulieren. Dies zeigte sich beim christlichen Ketzer- und Hexenmythos, der zur Inquisition führte, genauso wie beim nationalsozialistischen Judenmythos, der den Holocaust legitimierte. Und heute erleben wir den mythischen Dschihad gegen die Ungläubigen. Dieser gibt westlichen Jugendlichen einen Sinn und eine Orientierung, die sie offensichtlich in unserer vermeintlich aufgeklärten und vernünftigen, aber entmythologisierten Gesellschaft nicht finden.
Um nun im positiven Sinne die Rolle des Mythos zu verdeutlichen, kann man ihn in vier Funktionen unterteilen: in jene der Welt-Erklärung (kognitive Ebene), der Welt-Bewältigung (affektive Ebene), der Welt-Ausgestaltung (praktische Ebene) und der Welt-Bewertung (politisch-gesellschaftliche Ebene). Dabei wird klar, dass Mythen, indem sie die Wirklichkeit beschreiben und abbilden, genau diese Wirklichkeit konstituieren und konstruieren, und somit zu Richtungsweisern für menschliches Tun und Lassen werden.
Dies führt Axel Horstmann nun zur berechtigten Frage, ob Mythen vielleicht sogar tiefere Weisheit zukommen kann als der wissenschaftlichen Vernunft, ob sie ein quasi lebensnotwendiges Korrektiv (zweck-)rationalen Denkens und unverzichtbares Element menschlichen Lebens sind. Denn neben dem kognitiven erfüllt der Mythos auch das religiöse Bedürfnis. Weiters begründet er Moral, Sitten und Gebräuche, Vorbilder und Handlungsmuster sowie die Herstellung und Stabilisierung einer gesellschaftlichen Ordnung. Durch diese Aufgabenvielfalt endet die mögliche Parallelisierung von Mythos und Wissenschaft, da sich Wissenschaft rein auf den kognitiven Bereich des empirisch Belegbaren beschränkt und auf Themen der Lebensbewältigung gänzlich verzichtet. Damit ist es nicht nur abwegig, sich vom Mythos endgültig befreien zu wollen, sondern sogar gefährlich, denn dies führt am Ende keineswegs zur Befreiung des Logos von den Fesseln des Mythos, sondern vom Logos zurück zum Mythos, nämlich zum Mythos der Wissenschaft.
Nachdem also zunächst Mythos und rationale Wissenschaft einander ergänzend gegenübergestellt wurden, muss schließlich der Spieß sogar umgedreht werden: Nun ist der Wissenschaft das Defizit einer einseitigen, rein kognitiven Aufgabe zu attestieren und sie repräsentiert nur einen Teil innerhalb der Aufgabenvielfalt des Mythos. Freilich bleibt die Ambivalenz zwischen der Wirkkraft und dem möglichen Missbrauch von Mythen bis heute bestehen. Zur Auflösung dieser Ambivalenz liefert uns der deutsche Philosoph Odo Marquard (1928-2015) den interessanten Ansatz, dass die Bedrohung nicht in den Mythen als solche liege, sondern in einer „Monomythie“, bei der die Menschen der „Gewalt einer einzigen Geschichte“ ausgeliefert werden.
Samsons Kampf mit dem Löwen. Meister Leonhard von Brixen, um 1472 (Quelle: https://goo.gl/images/vnFbCt)
Innerhalb der oben genannten Ringvorlesung „Arbeit am Mythos“ bemerkten die beiden Organisatoren Annette Zgoll und Reinhard Kratz in ihrer Einleitung, dass die Kritik am Mythos von zwei Seiten kommt: zum einen von der aufgeklärten, modernen Wissenschaft und zum anderen von den monotheistischen Religionen. Sowohl bei der Wissenschaft wie bei den Religionen geht es um die Auffassung der Wirklichkeit oder, pathetischer ausgedrückt, um die Wahrheit. Ich möchte hier etwas polemischer und provokanter hinzufügen: Wenn beide für sich in Anspruch nehmen, ein alleiniger Zugang zur Wahrheit zu sein, repräsentieren sie damit genau eine solche „Monomythie“. Der „wahre“ Wissenschaftler erklärt alle Mythen und sonstigen nicht-wissenschaftlichen oder noch nicht-wissenschaftlichen Modelle als vor- oder unwissenschaftlich. Solche „Vor- oder Unwissenschaftler“ müssen dann verunglimpft, lächerlich gemacht und jedenfalls aus dem wissenschaftlichen Verkehr gezogen werden. Und der „wahre“ Gläubige erklärt alle Mythen und den eigenen religiösen Vorstellungen nicht entsprechenden Modelle als heidnisch, teuflisch und/oder ketzerisch. Solche Ketzer und Ungläubige müssen dann aus der Gemeinde, aus dem Paradies, im schlimmsten Falle sogar aus dem Leben verbannt werden. Die gefährlichen Folgen von Monomythie sind also Intoleranz, Fanatismus und Totalitarismus. Was wir derzeit unter anderem erleben, ist das Aufeinanderprallen der Monomythie unserer westlichen Konsumgesellschaft als allein seligmachende Heilsideologie mit der Monomythie eines islamischen Gottesstaates.
Nach Zgoll und Kratz zeugen sowohl die rationalistische wie die religiöse Kritik am Mythos von einem falschen Mythos- und einem falschen Wahrheitsverständnis, da es beim Mythos ja gar nicht um wahr oder falsch gehe, sondern mehr darum, wie es einem Mythos gelingt, die Wirklichkeit so darzustellen, dass die Menschen mit ihren Erfahrungen, Handlungen, Überlegungen, Ängsten und Hoffnungen, Werten und Zielvorstellungen davon angesprochen werden. Mythen sind demnach nicht wahr, sondern sie zeigen oder stiften Wahrheiten. Damit lassen sich Mythen eher mit Gesetzen vergleichen, die auch nicht wahr oder falsch sind, sondern Wirklichkeit gestalten, wobei man immer fragen kann und soll, wie sinnvoll und geeignet sie dafür sind.
Betrachten wir die derzeit erfolgreichen Computerspiele und die Kino-Blockbuster der vergangenen Jahre, können wir von einer Rückkehr des Mythos sprechen. Ob Avatar, Star Wars, Harry Potter, Herr der Ringe oder Transformers, sie alle folgen dem bewährten Schema des Mythos, vom amerikanischen Mythenforscher Joseph Campbell als Heldenreise bezeichnet. In seiner Struktur von Aufbruch, Reise mit ihren Proben und Kämpfen und glückliche Heimkehr mit dem eroberten Schatz spiegelt sich das Leben selbst. Wer nicht schon der Bequemlichkeit und Routine zum Opfer gefallen ist, der bricht ständig neu auf, erlebt Herausforderungen und gewinnt daraus den Schatz weiterer Erfahrungen. Und jeder gute Roman und jeder gute Film erfüllen die vier Funktionen von Welt-Erklärung, Welt-Bewältigung, Welt-Ausgestaltung und Welt-Bewertung.
Der Trennung von Mythos und Logos, noch mehr der Verbannung des Mythos in das Reich der Fantasie muss also eine Absage erteilt werden. Der Mythos kann und darf nicht sterben. Genau diese abwertende Betrachtung des Mythos hat uns lange übersehen lassen, wie sehr unsere Alltagswirklichkeit sowohl individuell wie kollektiv von Mythen geprägt ist: von Mythen wie dem unendlichen Fortschritt und Wachstum, der Marktwirtschaft oder auch der Technik als Allheilmittel. Diese unbewusst gelebten destruktiven Mythen gilt es hinter uns zu lassen und durch positive konstruktive Mythen zu ersetzen. Solche positiven Mythen, die das Woher, das Wohin und auch das Warum unseres Daseins erklären und entsprechende Entwicklungswege aufzeigen, finden sich im Märchen- und Mythenschatz aller Zeiten und aller Kulturen. „Auf zu den Mythen!“
Literaturhinweis: Reinhard G. Kratz, Annette Zgoll, Arbeit am Mythos, Mohr-Siebeck Verlag 2013
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Beitrag von Hannes Weinelt (Dieser Artikel erschien erstmals in der Ausgabe Nr. 148/2017 des Magazins Abenteuer Philosophie)
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