Dieses Jahr 2015 rief die UNESCO als „Internationales Jahr des Lichts“ aus. Licht ist Lebensvoraussetzung für alle Wesen der Erde. Licht prägt die Kultur und verbindet wie ein „goldener Faden“ Wissenschaft, Religion, Philosophie und Kunst. Wenn wir dieses Licht in der Musik suchen, dann entdecken wir neue Dimensionen. Vielleicht können wir sie dann nicht nur hören, sondern auch sehen.
Für uns ist Musik ein hörbares Phänomen. Doch das war nicht immer so. Die hörbare Musik ist nur die Spitze eines Eisbergs, dessen größter Teil „unhörbar“ ist. Der Eisberg besteht aus dem Zusammenwirken verschiedenster „Schwingungen“ – nicht nur akustischer oder elektromagnetischer Art. Damit grenzt Musik an Religion, Mystik, Philosophie. Denn lange bevor sich Musik als „Kunst“ etablierte, war sie Bestandteil der kultisch-religiösen Sphäre.
Das „Wort Gottes“ als „Urklang“ vor Beginn der Schöpfung und die Präexistenz des Lichts finden wir schon im ersten Schöpfungsbericht des Alten Testaments: „Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.“ Der „KLANG“ durch das „Schöpferwort“ lässt „LICHT“ entstehen. Prajapati, der Urschöpfer der vedischen Religion, ist das „singende Licht“, der „Lichtklang“. In den brahmanischen Schöpfungsmythen waren die ersten Menschen durchsichtige, leuchtende, klingende Wesen, die über die Erde flogen. Als sie sich zur Erde herabließen, und begannen Pflanzen zu essen, verloren sie ihre Leichtigkeit und Leuchtkraft. Ihre Körper wurden undurchsichtig. Nur ihre Stimme blieb von ihrer ursprünglichen Tonsubstanz übrig. Im Tibetischen Totenbuch schlägt strahlendes Licht in Klang um: „Edler, wenn dein Körper und dein Geist sich voneinander trennen, entsteht die Erscheinung des wahren Wesens (…) leuchtend und glänzend, in ihrer gleißenden und blendenden Helligkeit (…). Aus diesem Licht tönt der reine Eigenlaut des wahren Wesens.“ Einer der zahlreichen Schöpfungsmy-then des alten Ägyptens spricht von der singenden Sonne, welche die Welt durch ihren Lichtschrei erschafft. Im Sufismus, der islamischen Mystik, finden wir den Spruch: „Die Schöpfung entsteht aus Saut [Klang], und aus Saut entfaltet sich alles Licht.“ Der persische Mystiker Rumi ruft aus: „Oh suche die Musik, die nie verklingt! Oh finde die Sonne, die nie versinkt!“
Der Musikethnologe Marius Schneider bringt eine Unzahl von Quellenangaben, um jene „Verschmelzung von Hören und Sehen“ zu belegen, welche die alten Chinesen als „Ohrenlicht“ bezeichneten. Er schreibt: „Den orientalischen Hochkulturen und der mittelalterlichen Mystik Europas war dies nichts Außergewöhnliches, doch der moderne Mensch ahnt nur noch sehr wenig von der starken Hintergründigkeit der akustischen Welt, (…) aus dem die alten Schöpfungssagen die sicht- und greifbare Welt hervorgehen ließen.“
Hörbarer Klang entsteht durch akustische Schwingungen von Molekülen. Aber selbst wenn man die Frequenzen des Ultraschalls beträchtlich erhöhte, zu Farben würde er nie werden. Denn molekulare Schwingungen lassen sich nicht zu subatomaren Schwingungen verwandeln: Moleküle schwingen sehr langsam, im hörbaren Bereich 16 bis 20.000 Mal pro Sekunde; die elektromagnetische Schwingung der Atomteilchen dahingegen sehr schnell, im sichtbaren Bereich 380 bis 780 Milliarden Mal pro Sekunde.
Besteht somit die einzige Verwandtschaft zwischen Licht und Klang darin, dass beides Schwingungsarten sind?
Aber woher stammt dann die erstaunliche Parallelnennung von Licht und Klang in so vielen Kulturen? Und woher kommt die Faszination so vieler Künstler, sich von der „Verwandtschaft“ von Licht und Klang künstlerisch inspirieren zu lassen?
Antworten geben die neuesten Forschungsergeb-nisse der Synästhetik.
Christine Söffing, Mitinitiatorin der deutschen Synästhesie-Gesellschaft, erklärt: „Synästhesie ist, wenn ein Sinn erregt wird und gleichzeitig ein zweiter Sinn mitschwingt.“ Wenn Menschen dauerhaft Buchstaben mit einem Geruch, Klänge mit einem Farbton oder Räume mit einem Klang verbinden, sind sie Synästhetiker. Mit Abstand am häufigsten ist jedoch die Farben-Synästhesie, bei der Töne Farbwahrnehmungen hervorrufen.
Eine Säuglingsstudie besagt, dass bis zum Alter von drei Monaten alle Neugeborene Synästhetiker sind, da sie Sehen, Hören und Berühren als Wahrnehmungsgemisch erleben. Die Forscher fragen sich jedoch, warum sich in den ersten Lebensmonaten einige Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen auflösen und nur bei den Synästhetikern die enge Vernetzung bestehen bleibt. Untersuchungen zeigen, dass Hochbegabung und erhöhte Kreativität bei Synästhetikern gehäuft vorkommen. Viele künstlerisch tätige Menschen waren und sind Synästhetiker. Der Komponist Franz Liszt war synästhetisch begabt. Bei einer Orchesterprobe in Weimar rief er: „Das ist ein tiefes Violett, ich bitte, sich danach zu richten! Nicht so rosa!“ Der Komponist Alexander Skrjabin notierte in der Partitur des Prometheus eine „Lichtstimme“, die den Tönen ein passendes Farblicht zuordnet. Der Maler Wassily Kandinsky war auch Synästhetiker und rang darum, Licht und Farben mit Musik zu vereinen.
Jetzt können wir auf unsere Fragen antworten: Es gibt eine Anlage im Menschen, Licht und Klang als sich vernetzende Sinneswahr-nehmungen zu erfassen. Dies weist auf eine evolutiv uralte ganzheitliche Wahrnehmung der Welt hin. Somit sind Schöpfungsberichte und Erfahrungen vieler Mystiker nicht nur symbolisch-allegorisch – sie gründen auch auf konkrete, wenn auch subtile Wahrnehmung.
In meiner Arbeit als Musikpädagoge erlebe ich oft bei Kindern, mit welcher Selbstverständlichkeit sie von „hellen“ und „dunklen“ Tönen reden anstatt, wie wir schlauen Erwachsenen, von „hohen“ und „tiefen“ Tönen. Und „hell“ ist etymologisch verwandt mit „Hall“.
Vier physikalisch-akustische Parameter bilden einen Ton: Frequenz, Amplitude, Tondauer und Klangfarbe. Klangfarbe, das lebendige Herz, das unverwechselbare Wesen jedes Tons … Schon in meiner Schulzeit fragte ich mich, wie sich dieser künstlerische Begriff in die Wissenschaft verirrt habe. Vielleicht kündet er von jener archaischen Licht-Klang-Verbindung.
Um 1150, bei Mainz am Rhein: Hildegard von Bingen, erste Vertreterin der deutschen Mystik des Mittelalters, komponierte auch selbst Musik im gregorianischen Stil. Ihre Gesangskompositionen waren so berühmt, dass die Menschen von weit her zu ihrem Kloster Rupertsberg kamen, um sie und ihre Nonnen in der Messe singen zu hören. Hildegards Texte sprechen immer wieder vom mystischen Licht. Ihre Musik kann auch nicht anders als lichtvoll umschrieben werden. Alle Nonnen waren in weiße Gewänder gekleidet und trugen in ihrem offenen Haar funkelnden Schmuck wie strahlende Gestirne. Sie müssen auf die Zuhörer wie Engel gewirkt haben.
1799, Wien: Uraufführung von Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“. Die Musik hebt schwebend an, mit suchenden Harmonien, verstörenden Dissonanzen, orientierungslos, dann drängend zu einer Lösung aus dem uranfänglichen Chaos, und doch langsam verklingend in einem dumpfen c-Moll-Akkord. Der Erzengel Raphael singt mit getragener Stimme: „Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde …“ Der Chor der Engel fährt gedämpft fort: „… Und Gott sprach: …“ und im Pianissimo: „… Es werde Licht.“, dann ganz dünn, auf einem einzigen Ton, ohne Orchester: „Und es ward …“ – und plötzlich, total unvermutet setzt das ganze Orchester mit voller Wucht im Fortissimo ein, gemeinsam mit dem vom Chor in voller Lautstärke geschmettertem „… LICHT!“, in einem strahlenden, lichtvollen, triumphalen C-Dur-Akkord. Dieser Moment wurde bei der öffentlichen Premiere zu einer Sensation. Ein Freund Haydns schreibt:
1895, Berlin, Uraufführung der „Auferstehungssinfonie“ von Gustav Mahler. Im vierten Satz vertonte Mahler das Gedicht „Urlicht“ in friedvoller und lichter Schlichtheit – die Musik führt das Herz sanft hinauf gen Himmel. Im fünften Satz reißt die Musik den Zuhörer mit durch alle Höllen und Proben eines suchenden Menschen – und in nie zuvor erreichter, blendend hell strahlender Schönheit schließen Chor und Orchester, begleitet von Orgel und Glocken, diese gewaltige Sinfonie voller Euphorie ab. Sieg des Lichtes über die Dunkelheit, musikalisch erlebbar gemacht. In den Berichten von der Uraufführung ist von weinenden Männern die Rede, von wildfremden Menschen, die sich in die Arme fielen. Ich sah kürzlich eine YouTube-Aufnahme dieser Sinfonie: das venezolanische Simón-Bolívar-Orchester unter Dudamel in der Londoner Royal Albert Hall. Obwohl ich diese Sinfonie gut kenne, kamen mir die Tränen – als ob die Seele die Befreiung aus Not und Sterblichkeit wie eine Katharsis erlebt und das Eingehen in ein „höheres Licht“ vorkostet. Und was an dieser Aufnahme mein Herz besonders bewegte: Als endlich nach eineinhalb Stunden der erlösende Beifall einsetzt, sieht man nicht nur einen erschöpften Dirigenten, sichtbar ergriffen wie die beiden Solistinnen, sondern auch, wie einige Musiker sich Tränen aus den Augen wischen …
1968, Hollywood: Stanley Kubrick benutzt ein 16-stimmiges Chorstück von György Ligeti im Film „2001 – Odyssee im Weltraum“, betitelt mit „Lux aeterna“. Das Besondere daran ist der Ensembleklang, in dem die einzelnen Stimmen durch ihre Verschmelzung mit den anderen immer neue Klangfarben erschaffen. Durch das Wechselspiel der Chorsänger wird ein kontinuierliches und fluktuierendes Tönen erreicht. Die Stimmen liegen meist so eng beieinander, dass sie zu Clustern verschmelzen. Das Ergebnis ist ein sich kaum merklich ändernder Klang, der mehr innen irregulär pulsiert als wirklich von der Stelle geht. In verfließenden Klangwechseln ist die Lux aeterna, das „Ewige Licht“, musikalisch zum Leuchten gebracht. Es verwischen sich die zeitlichen Grenzen der Musik: Das Stück endet nicht, sondern verschwindet in der Ferne, aus der es kam, also auch die Ewigkeit bedeutend, von der es singt.
Können wir nun Ton und Licht nicht auch als zwei Phänomene sehen, die unsere geistige Entwicklung unterstützen?
TON: Durch das Lauschen verinnerlichen wir die Welt, verbinden uns mit ihr und lernen sie so kennen, und damit – wie durch einen Spiegel – uns selbst. Die Musik, als höchste künstlerische Ausdrucksform des Klangs, hilft uns dabei. Die hörbare Musik weckt in uns die Sehnsucht nach etwas „Höherem“, „Lichtvollem“ – nach etwas, das nicht mehr „hörbar“ ist. Wir gehen mit der Musik durch 1001 Gefühle und Emotionen hindurch, werden dadurch gebeutelt und geläutert. Musik erleben wir „in der Zeit“, sie ist „langsam“ im Vergleich zum Licht. Dadurch können wir psychische Prozesse bewusster wahrnehmen und verarbeiten. LICHT: Durch das Schauen können wir uns der geistigen Welt öffnen. Wir sprechen von „geistiger Schau“. Warum sagen die Engländer wohl „Oh, I see!“, wenn sie ausdrücken wollen, dass sie verstanden haben, und nicht: „Oh, I hear!“? Im Deutschen ebenso: „Ich sehe, …“ steht synonym für „Ich habe erkannt, …“ Die Schau „erfasst alles zugleich“, so wie ein Betrachter ein Bild mit allen Details auf einen Blick wahrnimmt. Das geht mit der Musik nicht. Die LICHT-Seite unseres Bewusstseins ist blitzschnell und umfassend. Sie kann die großen Ideen und Archetypen erfassen, die die Evolution lenken, wenn auch anfänglich vielleicht nur intuitiv und sporadisch. Der Weg des Klangs und der Weg des Lichts haben trotzdem beide dasselbe Ziel: Bewusstwerdung von dem, was wahrhaft IST. Und das Kultivieren der Musik, das Reflektieren mit der Musik, das bewusste Erleben durch die Musik kann ein Schritt in diese Richtung sein.
Beitrag von Walter Gutdeutsch
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Literaturhinweis:
Berendt, Joachim-Ernst: Nada Brahma. Rowohlt Verlag, Reinbek 1985
Hamel, Peter Michael: Durch Musik zum Selbst. dtv, München 1980
Jewansky, Jörg / Sidler, Natalia: Farbe – Licht – Musik. Synästhesie und Farblichtmusik. Peter Lang Verlag, Zürcher Musikstudien Band 5 (2006)
Kandinsky, Marius: Über das Geistige in der Kunst. Benteli Verlag, Bern 1952
Rudhyar, Dane: Die Magie der Töne. Musik als Spiegel des Bewusstseins. dtv, München 1982
Schneider, Marius: Singende Steine. Heimeran Verlag, München 1978
Stege, Fritz: Musik Magie Mystik. Otto Reichl Verlag, Remagen 1961
YouTube-Link von Mahlers „Auferstehungssinfonie“: https://www.youtube.com/watch?v=hZzFruQCofM
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