In einem Sumpf in Nord-Persien war ein Mann versunken. Nur sein Kopf schaute noch aus dem Morast heraus. Lauthals schrie er um Hilfe. Bald sammelte sich eine Menschenmenge an dem Ort des Unglücks und einer fasste den Mut, dem Verunglückten zu helfen. „Gib mir deine Hand“, rief er zu ihm hinüber. „Ich werde dich aus dem Sumpf herausziehen.“ Doch der Versunkene schrie weiterhin um Hilfe und tat nichts, dass der andere ihn herausziehen konnte. „Gib mir deine Hand“, forderte dieser ihn mehrere Male auf. Die Antwort war lediglich ein erbärmliches Schreien um Hilfe. Da trat ein anderer Mann hinzu und sprach: „Du siehst doch, dass er dir niemals seine Hand geben wird. Gib du ihm deine Hand, dann wirst du ihn retten können.“
So einfach scheint diese Lösung und ist doch schwerer, als man glaubt. Der aktive Teil des Mitleids überfordert den heutigen Menschen oft. Selbst den ersten Schritt zu machen, die Initiative zu ergreifen, kostet Überwindung. Man schaut oft lieber weg, tut unbeteiligt und sucht das Weite. So geschehen bei diversen Vorfällen, wo das beherzte Eingreifen eines Mitmenschen ein Opfer z.B. vor Raub, Ertrinkungstod oder Vergewaltigung hätte bewahren können…
Das Mitleid steht heute eben nicht hoch im Kurs, wie André Comte-Sponville in seinem Buch „Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben“ meint. Man lässt sich nicht gern bemitleiden, und Mitleid empfinden mag man auch nicht. Was seine Berechtigung hat: Es gibt auch Gegenstimmen zum Mitleid, u.a. von den Stoikern. Denn das Mitleid vermehrt die Menge des Leids in der Welt. Der Weise ist ohne Mitleid, sagen sie, weil er ohne Kummer ist. Und Cicero wird konkreter: „Warum nicht den Leuten helfen, wenn man kann, anstatt sie zu beklagen? Können wir nicht hilfsbereit sein ohne Mitleid? Wir sind nicht verpflichtet, die Sorgen der anderen zu unseren zu machen; sondern, wenn wir es können, die anderen von ihren Sorgen zu befreien.“ Also Tat statt Mitleid, und dagegen ist nichts einzuwenden.
Mitleid heißt griechisch sympatheia, und gerade in unserem Jahrhundert (das so mitleidslos ist) wird sehr viel von Sympathie gesprochen… Sympathie ist Mitfühlen, emotionale Anteilnahme an den Gefühlen des anderen (wörtlich: „gemeinsam fühlen“) und die Anziehung, die daraus entsteht. Mit Menschen, die einem sympathisch sind, ist es leichter, Mitleid zu empfinden. Was aber fühlt man jenen gegenüber, die einem nicht so nahe stehen oder die man ablehnt oder die einen hassen? Der wirklich erhabene und weise Mensch kann immer Mitleid empfinden, wie Jesus Christus gegenüber seinen Peinigern oder Buddha gegenüber den Bösen. Diese Beispiele sind überragend, deshalb aber umso beeindruckender. Mitleid ist das sich Ergreifen-Lassen vom Schicksal des anderen und ein tiefes Verständnis für die Motive seines Denkens, Handelns und Sprechens. Man muss es wagen, das Sein des anderen vorurteilslos anzunehmen, dann wird man mitfühlen – am Besten ohne zu leiden, denn das nützt wirklich niemandem.
Ist Mitleid nun ein Gefühl oder eine Tugend? Beides würde ich sagen. Vielleicht eher ein Gefühl, wenn es uns leicht fällt, dieses zu empfinden (z.B. wenn sich ein Kind verletzt), und eher eine Tugend, wenn wir darum ringen müssen, z.B. mit unserem Chef Mitleid zu empfinden, der uns gerade aus Machtgier und Eifersucht ungerecht behandelt…
Blickt man nach Osten, begegnet man der Großen Lehre des Mitleids in der Philosophie des Buddhismus. Mitleid (Sankskrit: Karuna = Erbarmen, tätiges Mitgefühl, zärtliche Zuneigung) ist die hervorragende Eigenschaft aller Bodhisattvas und Buddhas. Die Bodhisattvas des Mahayana-Buddhismus sind Wesen, die durch das Ausüben der vollkommenen Tugenden die Erleuchtung anstreben, jedoch so lange auf das Eingehen in das Nirvana verzichten, bis alle Wesen erlöst sind. Dieser Lehre zufolge warten sie, bis auch der letzte Mensch die Erleuchtung erlangt hat. Bis dahin versuchen sie mit all ihrer Macht, der Menschheit in ihrer Entwicklung zu helfen.
Der Bodhisattva Avalokiteshvara gilt als der Herr des Mitleids und Erbarmens. Von ihm wird folgende Legende erzählt: Schon als Prinz hatte er sich vorgenommen, allen Wesen bei ihrer Befreiung beizustehen. In einem feierlichen Eid verpflichtete er sich, darin niemals nachzulassen, andernfalls würde er in tausend Stücke zerspringen. Um sein Vorhaben erfüllen zu können, verweilte er im Zwischenzustand (Bardo) zwischen Leben und Tod und durchstreifte alle Bereiche des lebenden Seins. Ob Götter, Menschen, Tiere oder Dämonen, überall unterstützte er die Wesen, sich vom Leiden zu befreien. Als er sich irgendwann umsah und sein Werk betrachtete, sah er, dass eine Unzahl leidender Wesen nachgeströmt war. Er zweifelte für einen Moment an der Erfüllung seines Gelübdes und zersprang darob in tausend Teile. Aus allen Himmelsrichtungen eilten Buddhas herbei, um die Teile aufzusammeln. Dank seiner übernatürlichen Fähigkeiten setzte Buddha Amitabha, der Buddha der unterscheidenden Weisheit, Avalokiteshvara wieder zusammen. Dieses Mal gab er ihm jedoch tausend Arme, deren Handflächen mit jeweils einem Auge versehen waren, und elf Köpfe. Dadurch sollte gewährleistet sein, dass Avalokiteshvara noch effektiver den Wesen dienen und dass ihm kein Leid der Welt entgehen konnte.
Diese Legende und der gesamte Buddhismus stützen sich auf eine Weltanschauung der „kosmischen Sympathie“, um einen bereits oben zitierten Begriff zu verwenden. Demnach ist alles mit allem verbunden, Menschen, Tiere, Götter und alle anderen Lebewesen. Alles Leben wird durch „Dharma“ (Gesetz, Evolutionsprinzip) gelenkt und strebt einer Höherentwicklung und letztendlich der Befreiung aus dieser materiellen Welt der Wiedergeburten zu. Der Fortschritt eines Einzelnen ist zugleich ein Fortschritt für die gesamte Menschheit; ein Verbrechen hingegen schadet allen Wesen gleichermaßen.
Aus dieser hier nur kurz angerissenen Weltanschauung entspringt die „Lehre vom Mitleid“ als Schlüssel zur Befreiung. Wobei das Mitleid gerade im Buddhismus nichts Bedrückendes oder Trauriges hat und der Aspekt des „Leids“ ganz und gar nicht negativ gelebt wird. Alle Bodhisattvas werden mit einem ewigen hieratischen Lächeln dargestellt, das auch alle Buddhastatuen schmückt. Und das wir auch auf den Lippen des ewig freundlichen XIV. Dalai Lamas erblicken, wenn er – brutal vertrieben aus seiner Heimat und im Bewusstsein des Unrechts und der Repressalien, unter denen sein Volk leidet – lächelnd die Botschaft der Liebe und Befreiung in die Welt trägt.
Mitleid kann und muss gelernt werden, es ist Menschenpflicht. Kant sagt: „Es ist keine Pflicht, es zu empfinden, aber es ist Pflicht, in sich die Fähigkeit dazu zu entwickeln. Also ist Mitleid auch eine Tugend, denn eines der Kennzeichen der Tugend war – wie ich nach Aristoteles – vor langem bereits darstellte, dass sie erlernt werden kann.“
Zum Abschluss – wie üblich und wenn Sie wollen – eine praktische Übung und ein Satz zum Meditieren:
1.) Forschen Sie nach, wann und wo Sie Mitleid empfinden und „erlösen“ Sie dieses durch eine „selbstlose Tat“ in der guten alten „Pfadfindertradition“, auch wenn diese dem Leidenden nicht immer direkt zu Hilfe kommt.
2.) Und zum Meditieren:
Dies meint auch
Ihre Gudrun Gutdeutsch &
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