Ein Herr hatte einen Diener, der ihm treu ergeben war. Eines Tages gab er dem Diener eine Melone, die reif und köstlich ausschaute, nachdem sie aufgeschnitten war. Der Diener aß ein Stück, dann noch eines und noch eines mit großem Genuss, bis fast die ganze Melone aufgegessen war. Sein Herr wunderte sich sehr darüber, dass sein Diener ihm nichts anbot. So nahm er das letzte Stück, probierte es und fand die Melone übermäßig bitter und ungenießbar. „Warum ist sie bitter? Fandest du es nicht so?“, fragte er den Diener. „Ja, mein Herr“, antwortete der Sklave, „sie war bitter und unangenehm, aber ich habe so viel Süßes von deinen Händen gekostet, dass eine bittere Melone nicht erwähnenswert war.“
Bitteres als Genuss zu ertragen ist nur möglich, wenn man schon auf eine gemeinsame (süße) Vergangenheit zurückblicken kann. Treue hat mit Erinnerung zu tun, mit der Gedächtnisfähigkeit des Menschen. Gedächtnis ist philosophisch betrachtet die Treue zu sich selbst. Die Identität, das „Ich bin“, entsteht nur aufgrund der erlebten Vergangenheit. Würden wir eines Morgens aufwachen und hätten wir unser Gedächtnis verloren, besäßen wir auch keine Identität mehr.
„Die Treue ist Erinnerungstugend, und die Erinnerung selbst ist eine Tugend“, sagt André Comte Sponville in seinem Buch „Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben“. Weiter lesen wir: „Wir sollen nicht allem und jedem treu sein, es wäre sonst keine Treue mehr, sondern Festhalten an Vergangenem, Borniertheit, Unbeweglichkeit, und die Treue sagt zu beidem gleichermaßen nein. Treue zum Bösen ist schlechte Treue und die Treue in Dummheit doppelte Dummheit.“
Halten wir also fest:
Treu kann nur jemand sein,
der eine Identität besitzt und Unterscheidungskraft hat.
Denn man muss wissen,
welcher Sache und welchem Menschen man treu sein will.
Die Inder nannten die Fähigkeit des Unterscheidens „Viveka“ und brachten sie mit der Intuition in Verbindung. „Viveka“ – so das indische Gleichnis – besitzt der schwarze Schwan „Kalahamsa“, der fähig ist, aus einem Töpfchen verdünnter Milch nur die Milch zu trinken und das Wasser zurückzulassen…
Die Philosophie lehrt aber auch, dass alles fließt, und dass man nicht zwei Mal in denselben Fluss steigen und nicht zwei Mal denselben Menschen lieben kann. Warum sollte man also ein Versprechen halten, wenn man heute nicht mehr der oder die von gestern ist? Weil die wahre, spirituelle Identität unveränderlich ist, was sich ändert, ist unsere Persönlichkeit, der sterbliche Mensch. Was bleibt, ist das Selbst, der göttliche Funke, die unsterbliche Seele.
Man darf – muss sogar – seine Meinungen und Ansichten ändern, wenn man dazugelernt hat. Das bedeutet Treue seinem Selbst gegenüber.
Die Treue ist das Kennzeichen jedes tugendhaften Menschen, denn als solcher ist er seinen Tugenden treu, z.B. der Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Freiheit.
Von Giordano Bruno, dem berühmten Renaissancephilosophen, der sich in jahrelanger Gefangenschaft befand, wird erzählt, dass er, als er von einem Bewacher mit „Gefangener“ angesprochen worden war, ruhig entgegnete: „Der Gefangene sind Sie, nicht ich.“ Die Treue zu den Tugenden gibt ihnen erst ihren wahren Wert, denn sie werden unabhängig von den äußeren Umständen ausgeübt.
So sollte es auch bei der ehelichen Treue oder der Treue in Partner- bzw. Freundschaften sein. Wie heißt es beim Eheversprechen? „In guten wie in schlechten Tagen…“ Nossrat Peseschkian, persischer Arzt und Begründer der Positiven Psychotherapie, definiert Treue als „Fähigkeit, eine feste Beziehung über längere Zeit hinweg aufrechtzuerhalten und sich vertrauenswürdig zu verhalten“. Treue hat also zwei Seiten: zum einen, selbst treu zu sein, und zum anderen, sich so zu verhalten, dass der andere auch Vertrauen haben kann! Jeder Mensch ist zweifach gefordert: treu und vertrauenswürdig zu sein. Peseschkian weiter: „Treue im engeren Sinn der Partnerschaften bezieht sich vor allem auf die Sexualität. Die konventionelle Ehe basiert auf Treue. Treue gibt es aber auch gegenüber Institutionen, Leitbildern oder Prinzipien (z.B. Verfassungstreue) und gegenüber sich selbst.“
Treue wird also im engsten Sinne als beiderseitiges ausschließliches Anrecht auf den Körper des anderen aufgefasst. Warum soll man nur einen Menschen lieben? Weshalb nur einen Menschen begehren? Dem Freund treu zu sein heißt ja auch nicht, dass man nur einen hat. Das eigentliche Problem ist hier vielleicht nicht die Treue, sondern Besitzanspruch und Eifersucht. Peseschkian meint, dass die heutigen Partnerschaften oft scheitern, weil man an den einen Partner zu viele Anforderungen stellt, von ihm alles erwartet, was aber – realistisch betrachtet – eine Person niemals geben kann. Der Mensch als soziales und geselliges Wesen braucht vielfältige und unterschiedliche Beziehungen, um glücklich zu werden.
Die Treue zu einer Gemeinschaft oder einem spirituellen Weg wurde im christlichen Mönchstum „Stabilitas“ – Beständigkeit – genannt. Ursprünglich war damit das Bleiben am Ort, das Verharren in der einmal gewählten Klostergemeinschaft gemeint. „Stabilitas ist die Aufforderung, Bindungen einzugehen und an ihnen festzuhalten, Aufgaben, die einem im Zusammenleben gestellt sind, auch zuverlässig zu erfüllen“, schreibt Peter Seewald in seinem Buch „Die Schule der Mönche“. Stabilitas ist eine der wichtigsten Tugenden für inneres Wachstum und geistige Entwicklung. Nur wer sich jahrelang einer Sache hingibt, wird sie in all ihren Facetten, in ihren Höhen und Tiefen erleben können, Krisen durchmachen und dadurch reifen.
Zu allen Zeiten und in allen Kulturen gab es Menschen, die sich einem geistigen Weg verschrieben haben, dem sie ihr Leben lang treu geblieben sind. Denken wir an die ägyptischen, griechischen oder römischen Priester, die buddhistischen, hinduistischen und christlichen Mönche der Gegenwart oder die Philosophen der Antike. Eine Vestalin im Alten Rom beispielsweise hatte in jedem Lebensabschnitt ihre heilige Aufgabe: In ihrer Jugend wurde sie als Novizin ausgebildet und erprobt, in ihren Reifejahren diente sie der Göttin und hütete das ewige Feuer, im Alter war sie Lehrmeisterin
für die Jungfrauen.
Unsere schnelllebige Zeit hat dafür nicht viel übrig, man wechselt in kurzen Abständen Wohnorte, Arbeitsplätze, Partnerinnen und Partner, Hobbys, Freundeskreise… Man besucht die verschiedensten Workshops und Seminare, probiert Meditations- und Selbsterfahrungstechniken aus – schnell sind wir begeistert, schnell verlieren wir wieder das Interesse…
1.) Würde ich mich als treu bezeichnen?
2.) Bin ich mir selbst treu?
3.) Welcher Sache (z.B. Hobby, Freundeskreis, Verein usw.) bin ich schon lange treu? Wie lange? Warum?
4.) Welchem/n Menschen bin ich schon lange treu?
5.) Was habe ich durch die lange Treue gelernt und erfahren?
6.) Was halte ich von Treue in Partnerschaften? Wie wichtig ist mir sexuelle Treue?
7.) Welchen Werten und Tugenden will ich mein Leben lang treu bleiben?
Ihre Gudrun Gutdeutsch &
Treffpunkt Philosophie Zürich
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