Manieren haben autoritären Charakter. Sie entziehen sich der Diskussion. Die großen Lehrer der Manieren haben sich deshalb zu allen Zeiten niemals als Gesetzgeber verstanden, sondern als Deuter und Interpreten eines bereits vorliegenden, nach ihrer Vorstellung immer schon vorhanden gewesenen Korpus von Regeln, das mit anderen Grun
dsätzen aus der Kunst, der Philosophie und der Religion in Harmonie stand und noch in der kleinsten Geste mit dem Gesetz des ganzen Kosmos verbunden war. Die dem eigenen Stande angemessenen Manieren wiesen dem Einzelnen seinen Platz in diesem Kosmos zu und machten ihn dadurch überhaupt erst zum Menschen.
Dies schreibt Asfa-Wossen Asserate im Bestseller „Manieren“, erschienen 2003 im Eichborn-Verlag. „Der beste Kenner eines Landes und seiner Gesellschaft ist der Fremde, der bleibt“, meinte einst der Soziologe Georg Simmel. Asserate, äthiopischer Prinz und Großneffe des Kaisers Haile Selassie lebt seit 1974 in Deutschland und ist ein solcher Fremder. Was er über die europäischen Sitten in ihrer deutschen Spielart sagt, ist verblüffend, geistreich und tief philosophisch. Besser kann ich es einfach nicht sagen – deshalb die Zitate in Kursivschrift.
Manieren, guter Stil, Etikette und Höflichkeit wurden einst von den 68ern verspottet und von der aufstrebenden New Economy gar nicht zur Kenntnis genommen. Heute finden sie plötzlich wieder Beachtung. Laut einer Umfrage halten 87% der Deutschen „Höflichkeit und gutes Benehmen“ für das wichtigste Erziehungsideal. Thomas Gottschalk präsentierte im März 2004 seine erste Benimm-Show im Fernsehen. Inge Wolff, Vorsitzende des Arbeitskreises Umgangsformen International, verzeichnet einen immer größer werdenden Boom in diesem Bereich.
Der Grund für die neue Höflichkeit liegt in einem enormen Nachholbedarf. Der „68er“ Klaus Hurrelmann, Erziehungs-
wissenschaftler an der Universität Bielefeld, meint: „Wir haben vergessen, dass jede Gesellschaft auch Spielregeln braucht. Insofern haben wir 68er uns wirklich versündigt.“
Zurück zu Asfa-Wossen Asserate. Sein Werk ist kein „Handbuch der Manieren“, sondern eine Philosophie über den menschlichen Umgang. Und dafür sind zwei widersprüchliche Aspekte der Manieren wichtig, die jeweils Anspruch auf vollständige Verwirklichung erheben: Der eine ist die Aufmerksamkeit, und die ist so wichtig, dass man gelegentlich einen höflichen Menschen „aufmerksam“ nennt. Die Aufmerksamkeit ist keine Regel, die man kennt und einhält oder verletzt; sie gehört zum Fundament der Person. Aufmerksamkeit ist eine Grundhaltung des Menschen der Welt gegenüber. Der Aufmerksame blickt die Menschen, die ihm begegnen, an. Diese Menschen sind ihm wichtig. Sogar wichtiger als er selbst. Er stellt sich in ihren Dienst und gibt sich ihnen mit vollkommener Selbstlosigkeit hin. Und so entwickelt der Aufmerksame nach Asserate die Tugend der Demut, jene kraftvolle Tugend, die mit großer innerer Unabhängigkeit einhergeht.
Der zweite Aspekt ist die Nachlässigkeit. Die Manieren sollen mit Beiläufigkeit, ohne Ostentation, ohne alles Aufplustern und Zelebrieren daherkommen. Der Nachlässige begegnet der Welt mit einer gewissen Distanz. Er erkennt – um mit den östlichen Kulturen zu sprechen -, dass die Welt „Maya“ ist, „Täuschung, „Illusion“ (mehr darüber im Buch „Die Spiele der Göttin Maya“, erhältlich im Eigenverlag von Neue Akropolis). Deshalb misst er – ganz im Gegensatz zum Aufmerksamen – den Phänomenen, die ihm begegnen, keine wirkliche Bedeutung bei. Er wirkt ruhig, entspannt und gelassen. Im Frankreich des 18. Jahrhunderts war das Schlüsselwort für das Verhalten in der Gesellschaft die „Ungezwungenheit“. Ungezwungen wurden alle Regeln eingehalten, als sei es das Natürlichste der Welt. Der Ungezwungene verwirklicht die vollkommene Anmut.
Wie wirken die beiden gegensätzlichen Eigenschaften zusammen? Lassen Sie uns das anhand einer kleinen Szene illustrieren: Gerade hat der Nachlässige noch völlig entspannt in seinem Sessel gelegen; man hat ihm das tiefe Wohlbefinden, es sich so herrlich bequem gemacht zu haben, angesehen, und dieses Wohlbefinden ist auch auf seine Umgebung übergesprungen. Aber nun sind neue Gäste ins Zimmer getreten, und der Nachlässige steht unversehens auf – nicht wegen der Gäste natürlich – , sondern er macht es sich, indem er steht, nur auf eine andere Art bequem. Geschmeidig und elegant wie ein Gepard – so stelle man sich die glückliche Vermählung der Gegensätze Aufmerksamkeit und Ungezwungenheit in einem Menschen vor…
Das Spannende an einem Paradoxon ist, dass es sich mit Logik nicht begreifen lässt, gerade deshalb aber ist es so kraftvoll. „Lauschen Sie dem Klatschen einer Hand…“ ist ein berühmtes „Koan“, ein Meditationsspruch aus dem Zen-Buddhismus, der den Übenden zu „Satori“, der Erleuchtung, führen soll. Wenn man die Logik mutig in Intuition verwandelt, kommt man zur Erkenntnis. Hier noch ein Koan zum Thema Manieren: „Wenn ihr auf der Straße einen trefft, der die Wahrheit erlangt hat, dürft ihr an ihm weder sprechend noch schweigend vorübergehen. Nun sagt: Wie wollt ihr ihm dann begegnen?“
Der vollendet Höfliche kann hier und jetzt ein Paradoxon leben: gespannte Aufmerksamkeit und nachlässige Ungezwungenheit gleichermaßen. Er verwirklicht Demut und Anmut gleichzeitig. Mut ist gleich zweifach gefordert! Und der ist nach Sponville nur eine Tugend, wenn er dem Nächsten oder dem Gemeinwohl dient. Der Mut, so sagt er weiter, sei die Vorbedingung für jegliche Tugend, denn die Tugend muss erlernt werden und um das zu wagen, braucht man Mut. Der möge sich aber anmutig und demütig äußern.
Entlassen möchte ich Sie auf das gesellschaftliche Parkett mit einer letzten Betrachtung von Asserate: Die Manieren sind von paradoxen Phänomenen in einem Ausmaß erfüllt, dass man sie im Ganzen als Feld des Paradoxen bezeichnen könnte. Diese Eigenschaft deutet auf ihre Nähe zum Leben hin, das sich zwischen Weltanschauungen, politischen und ökonomischen Systemen und den Marksteinen der Weltgeschichte hin und her schlängelt, mit seinem stetigen Strom die Uferbefestigungen und Hindernisse auf seinem Weg geduldig unterhöhlt und gelegentlich zum Einsturz bringt. Gerade in den Kreisen, in denen die Manieren herrschen – was bekanntlich nicht mit dem Regieren zu verwechseln ist -, war es immer wichtig, sich nicht richtig darin auszukennen.
Mut zum Spiel des Lebens wünschen
Ihre Gudrun Gutdeutsch &
Ihr Treffpunkt Philosophie Zürich
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