Anfang September 2014 erschien sein neuer Roman „Grundriss eines Rätsels“. Das gab Anlass zu einem Interview mit dem Autor, um die Rätsel seines Lebens zu erforschen.
Kammerer: Sie sind ein Wortkünstler. Zu welchen Künsten haben Sie noch einen besonderen Zugang?
Roth: Neben der Literatur liebe ich vor allem die Malerei. Zuerst bin ich lange Zeit von van Gogh und dann von Goya eingenommen gewesen. Nachdem ich Rembrandt genauer kennengelernt hatte, ist Picasso an der Reihe gewesen. Das ist bis in die Gegenwart hinein so weiter gegangen. Ich kenne von Günter Brus, Peter Pongratz über Hermann Nitsch und Erwin Wurm bis zu Christian Attersee und Arnulf Rainer viele österreichischen Maler, die mir etwas bedeuten. Die Begegnungen mit ihren Arbeiten waren für mich sehr anregend, weil jeder Künstler – noch mehr als die meisten anderen Menschen – in seinem Kopf einen eigenen Kosmos hat, der so unverwechselbar ist, wie unsere Fingerabdrücke.
Kammerer: Sie schreiben in Ihrem Buch „Das Alphabet der Zeit“, dass Sie ein großes Interesse für Geisteskranke und auch für Irrenanstalten haben. Warum?
Roth: Eigentlich hat es bei mir mit den sogenannten Geisteskranken begonnen, als ich noch ein Kind war. Es waren alles Menschen aus meiner unmittelbaren Um-gebung. Da gab es meinen Großonkel Fritzl in der Anstalt „Feldhof“, die jetzt Sigmund-Freud-Klinik heißt. Zusammen mit meiner Mutter habe ich ihn dort zweimal besucht. Ich hatte danach den Eindruck, dass alle Geisteskranken ein Geheimnis haben, das auch ich nicht kannte. Dann gab es noch einen verwirrten Nachbarn, der im Hochsommer einen Wintermantel und einen Hut trug. Er hat furchtbar geschwitzt und ist die staubigen Straßen in Gösting schimpfend hinauf- und hinuntergelaufen, war aber zu uns Kindern nicht aggressiv. In meinen Augen war er ein Abenteurer. Er ist zum Beispiel gerne in die Straßenbahn eingestiegen, ohne eine Fahrkarte zu lösen. Das heißt, ein „Einsteigen“ war das nicht, denn erst wenn die Straßenbahn langsam losgefahren ist, hat auch er zu laufen begonnen und im nächsten Augenblick war er schon im Führerstand. Er hatte natürlich kein Geld, um zu bezahlen, aber er war den Schaffnern längst bekannt und deswegen gab es auch keine große Aufregung. An der nächsten Station stieg er dann von selbst wieder aus. Ich habe außerdem noch ein entferntes Familienmitglied meiner Mutter, einen jungen Mann, gekannt, der schizophren geworden ist. Über ihn und alle anderen Geisteskranken habe ich mir dasselbe gedacht: Ich glaubte, dass sie gegen etwas protestierten. Darum haben sie auch meine Sympathie gewonnen, weil sie sich meiner Meinung nach getrauten, in anderen Umgangsformen zu leben.
Ich sah in den Geisteskranken Rebellen gegen die Wirklichkeit. Unser verwirrter Nachbar, der Schwarzfahrer, kam als Patient meines Vaters, der praktischer Arzt war, in unser Haus, weil seine betagten Eltern verzweifelt waren und nicht gewusst haben, was sie mit ihm machen sollen. Ich war neugierig und habe ihn ausgefragt. Seine Antworten, die ich eigentlich nicht verstand, habe ich trotzdem oder vielleicht sogar deswegen großartig gefunden und ich nahm mir vor, dass ich Psychiater werden würde. Später, als Mittelschüler in der Oberstufe, las ich zufällig eine Ärztefachzeitschrift meines Vaters das „CIBA-Symposium“, in der Malereien von Geisteskranken abgebildet waren, die mich sehr beeindruckt haben. Und noch später hörte ich dann von den Gugginger Künstlern. Eines Tages im Jahr 1974 bin ich für die Frankfurter Allgemeine Zeitung selbst nach Gugging gefahren. Beim ersten Besuch habe den Leiter der Anstalt, Leo Navratil, den Dichter Ernst Herbeck und den Maler August Walla kennengelernt, bei späteren Besuchen dann alle übrigen. Mich faszinierte von Anfang an ihr Verhalten, denn man sprach zu dieser Zeit Schizophrenen ab, Empathie zu empfinden. Meine Erfahrung mit ihnen war jedoch anders. Bei meinen Besuchen erkannten sie mich jedes Mal wieder und freuten sich, wenn ich ihnen ein kleines Geschenk mitgebracht habe. Ich durfte ihnen während des Malens zuschauen, und als sie einmal den Eindruck hatten, jemand sei unhöflich zu mir, fragten sie die Person streng, was sie von mir wolle. Meine Überlegungen zu ihrer Geisteskrankheit kann ich am besten mit einer Metapher erklären: Ich stelle mir gegen alles Wissen vor, dass im Gehirn das Bewusste vom Unbewussten durch eine Membran getrennt sei, durch die beim gesunden Menschen – wie zum Beispiel im Traum – ein Teil des Unbewussten ins Bewusste fließen könne und umgekehrt. Bei den Geisteskranken stelle ich mir diese Membran zerstört oder löchrig vor, sodass sich das Unbewusste und das Bewusste chaotisch miteinander vermengen. Für einen sogenannten normalen Künstler ist es schwierig, sich dem Unbewussten anzuvertrauen, obwohl ein größerer Teil seiner Arbeit ja vom Unbewussten lebt. Ich habe die Gugginger Künstler immer für ihre Direktheit bewundert, die sie beim Zeichnen und Malen aus sich selbst heraus schaffen.
Kammerer: Was bedeutet für Sie „Normalität“?
Roth: Es gibt einen Raster dafür, was wir unter „Normalität“ verstehen. Einen perfekt „normalen“ Menschen würde ich „Normopath“ nennen, denn jeder Mensch ist, ob er es will oder nicht, anders als die anderen, d.h., wenn er sich nicht gerade hinter der Normalität versteckt. Der griechische Vorsokratiker Heraklit hat es als eine Eigenschaft der Natur bezeichnet, dass sie sich verbergen wolle. Der Satz hat bis heute nichts an Zauber für mich verloren. Die Menschen tragen zwar eine Alltagsmaske, aber sie haben dahinter ein Reich, das ihnen allein gehört, und sei es nur das Reich des Traumes oder das Reich ungestillter Sehnsüchte und Wünsche.
Kammerer: Würden Sie sich als Mensch mit philosophischer Neigung bezeichnen oder würden Sie sich überhaupt als Philosoph sehen?
Roth: Eine Inspiration waren für mich immer die Vorsokratiker. Ich glaube gerade deshalb, weil von ihnen keine wirklichen Gedankengebäude überliefert sind, sondern nur Fragmente. Gerade dieses Fragmenta-rische aber hat die Zeit überdauert. Wenn ich Heraklit aufschlage und lese: … das Verhalten des Menschen ist sein Schicksal …, brauche ich kein Psychologiebuch mehr durchzulesen. Es ist unsicher, ob das von ihm stammt, aber angeblich hat er auch gesagt: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ Heraklit konnte komplex denken und das Ergebnis relativ einfach wiedergeben. Auch die anderen Vorsokratiker sind eine Fundgrube für mich. Pythagoras oder Demokrit und Parmenides schätze ich natürlich. An Schopenhauer und Nietzsche kommt man nicht vorbei, obwohl sie auf mein Leben keinen direkten Einfluss gehabt haben. Über Schopenhauer, der in den „Aphorismen zur Lebensweisheit“ sinngemäß geschrieben hat: „Wenn einem alle Argumente ausgehen, dann muss man schimpfen“, habe ich Thomas Bernhard verstanden. Das Schimpfen ist eine sehr wirksame Waffe, die verhindert, dass man den Kürzeren zieht. Mit Heidegger tue ich mir schwer, auch weil ich seine Biografie seltsam finde. Er greift übrigens auf einen der Vorsokratiker, Parmenides zurück. Existenzialisten wie Albert Camus und Jean Paul Sartre haben bis heute einen Einfluss auf mein Denken. Spinoza und Kierkegaard lese ich hin und wieder. Eine ganze Lehre, wie die von Karl Marx, also ein Gedankengebäude, macht mich eher vorsichtig. Mit Wittgenstein habe ich mich immer wieder befasst, er war ein Verrückter und dadurch ist er für mich eigentlich unerschöpflich.
Kammerer: Herr Roth würden Sie sich als religiöser Mensch bezeichnen und was bedeutet für Sie Spiritualität?
Roth: Die Natur ist für mich das größte Rätsel und damit „heilig“, insofern bin ich am ehesten ein Pantheist. Ich glaube nicht an ein Weiterleben nach dem Tod oder an Wiedergeburt im Sinne der Buddhismus. Man kann in den Genen der Nachkommen weiterleben oder in irgendwelchen Arbeiten, die man macht. Das heißt nicht, dass jeder, der vergessen ist, zu Recht vergessen wurde. Die Menschheit hat ein wandelbares Gedächtnis und leidet irgendwie unter Alzheimer. Ich staune allein schon darüber, wie wenig von den Helden in meiner Kindheit übrig geblieben ist.
Kammerer: Was bedeutet Ihnen Familie, was bedeutet Ihnen Partnerschaft?
Roth: Meine Frau Senta und natürlich die Kinder und Enkelkinder bedeuten mir sehr viel. Die Enkel sind eigentlich vom Miterleben her das Positivste, weil man durch sie an die eigene Kindheit erinnert wird und jetzt das kindliche Denken anders versteht als vorher. Ein Großvater oder eine Großmutter müssen außerdem das Enkelkind ja nur dann „erziehen“, wenn es zu Hause gerade keine Betreuung hat. Wenn ich in Wien am frühen Morgen die Kinder auf der Straße mit den Schultaschen gehen sehe, tun sie mir leid. Es ist draußen noch dunkel und kalt und sie bleiben dann acht und sogar zehn Stunden in den Schulen und sehen ihr Zuhause und ihre übermüdeten Eltern erst am Abend wieder, die ihnen aus schlechtem Gewissen vielleicht kleine Geschenke machen, damit sie den Mangel an Liebe und Zeit für sie kompensieren.
Kammerer: Sie waren in Ihrer Jugend oft sehr schwer krank. Hat Sie das geprägt?
Roth: Mein Vater war, wie gesagt, Arzt, meine Mutter Krankenschwesternschülerin. Krankheit war in der Familie das Zentrum des Denkens und des Tagesablaufes. Bis heute plagt mich permanent immer irgendetwas. In der Kindheit habe ich das Kranksein aber auch als Befreiung empfunden, weil ich nicht in die Schule gehen musste. Das zu Hause- Bleiben und Im-Bett-Liegen war für mich – weil ich ja ohnehin krank war und Schmerzen hatte – keine Strafe. Meine Mutter hat sich Sorgen um mich gemacht, meine Großmutter ist neben meinem Bett gesessen und hat mir Geschichten erzählt und meine beiden Brüder mussten leiser sein. Das war – abgesehen davon, dass ich krank war – angenehm für mich. Später musste ich natürlich lernen, mit Krankheiten anders umzugehen.
Kammerer: Wann und wo gönnen Sie sich etwas?
Roth: Ich gehe schon seit 65 Jahren zu den Heimspielen von Sturm-Graz und schaue mir die meisten Fußballspiele (Bundesliga, WM, EM) im Fernsehen an. Dann habe ich das Zusammensitzen mit Menschen gerne, die Gespräche, das gegenseitige Zuhören und das gemeinsame Essen und Trinken. Ich habe am Land sehr viele Menschen getroffen, die mir weitergeholfen haben: Imker, Fischzüchter, Jäger, Schwammerlsucher und eben wunderbare Erzählerinnen und Erzähler.
Kammerer: Herr Roth ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch.
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