Die ersten sommerlichen Tage sind angebrochen, Entspannung, lange Abende mit Freunden im Freien, Wanderungen, Spaziergänge um den Zürichsee, Badeausflüge, Sport … Man „lebt“ richtig, genießt in vollen Zügen, die Sinne werden verführt durch die Blütenpracht und die Düfte des Sommers, wir spüren die Sonne und den Wind auf der Haut, das erfrischende Nass der klaren Gebirgsseen.
Es gibt Momente, in denen wir das Leben stärker genießen als in anderen. Momente, in denen wir lieber leben, Zeiten im Jahr, auf die wir uns freuen, Orte, an denen wir glücklich sind und Frieden, Entspannung, Erholung finden. Momente, in denen wir uns vom Stress, dem Berufsleben zurückziehen und endlich abschalten können.
Auch Marc Aurel beobachtete dies schon vor über 2000 Jahren bei seinen Mitmenschen: „Da suchen sich die Menschen Stätten, um sich zurückzuziehen: Aufenthalt auf dem Lande, an der See, im Gebirge. Und auch du pflegst dich am meisten nach solchen Stätten zu sehnen. Und doch ist all solches Verlangen in höchstem Grade kindisch, während es doch möglich ist, sich zu jeder Stunde, wenn man es will, in sich selber zurückzuziehen. Denn der Mensch zieht sich nach keiner anderen Stätte zu größerer Ruhe und Ungestörtheit zurück als in seine eigene Seele, vor allem derjenige, der in sich einen solchen Seelengrund hat, dass er, wenn er in ihm untertaucht, sich alsbald in vollendeter Ruhe befindet. Suche dir daher ständig diese Zuflucht und erneuere dich selbst …“
Doch wir Menschen sind nicht von einem „äußeren“ Sommer abhängig, da wir in uns einen unermesslichen Reichtum tragen: Unsere Vorstellungskraft. Mit dieser Imaginationsfähigkeit können wir uns jederzeit und überall in einen „inneren Sommer“, einen „inneren Urlaub“ zurückziehen. Und diese inneren Welten sind um vieles reicher, farbenfroher und prachtvoller als jene, die das menschliche Auge je zu sehen vermag. Die östlichen Kulturen, die ja seit alters her in einer besonderen Beziehung zur geistigen „Realität“, der wahren Welt stehen, lehren, dass alle Pracht der physischen Welt ein müder Abglanz dessen sei, was in der geistigen, spirituellen Welt an Schönheit, Farbenpracht, Klängen und Formen vorhanden ist.
Wir können uns nicht im Traum vorstellen, welchen Reichtum die innere Welt birgt, welche Kraft, Stille und Harmonie. Alle Güter der materiellen Ebene, denen wir nachjagen, die wir begehren und haben wollen, sind ein matter Widerschein der Schätze der geistigen Welt. Alle Ästhetik der Erde ist ein armseliger Abglanz der Idee des Schönen, die vollendetste Musik Bachs ein Versuch, die Klangwelt der Sphärenmusik in physisch hörbare Töne umzuwandeln … Wir wissen das heute nicht mehr, haben es vergessen oder verdrängt. Es gibt eine Welt voller Tiefe in und um uns, nach der wir uns wahrhaft sehnen sollten, nach der wir streben sollten und die wir uns erobern müssen, wenn wir das wahrhaft Menschenmögliche erreichen wollen.
Das kann jeder Mensch tun, jederzeit und überall, wenn er nur wahrhaft will und seinen Alltag um dieses Ziel „arrangiert“. Deshalb haben wir in einer vorangegangenen Folge dieser Serie mit der Einladung zu einem „geistig orientierten“ Alltag begonnen, und zwar mit dem ersten Moment des Tages: dem Aufstehen am Morgen. Ich hoffe, Sie erinnern sich? Vielleicht haben Sie auch das eine oder andere Mal ein kleines „Morgenritual“ durchgeführt, einen schönen Satz gelesen oder ein Räucheropfer gebracht?
Wir wollen heute nun den Tag fortsetzen, indem wir uns dem weiteren Verlauf der „Morgenroutine“ widmen, die uns jetzt ins Badezimmer führt. Jeder Mensch hat seine Methoden, sich physisch zu „erwecken“, sei es mit warmem oder kaltem Wasser… H. P. Blavatsky schreibt in ihrem Büchlein „Praktischer Okkultismus“ im Kapitel „Ratschläge für das tägliche Leben“:
Im Allgemeinen sind wir bei unserer Morgenroutine eher hektisch und im Geist schon mit dem kommenden Tag beschäftigt – oder mit den Träumen der Nacht oder damit, zu bedauern, dass wir jetzt nicht mehr weiterschlafen können, wir hadern mit der grausamen Welt, die uns so wenig Schlaf gönnt, usw.
Es scheint so einfach und logisch, was hier vorgeschlagen wird. Es ist ein Grundsatz jedes geistigen Lebensstils, dass man nämlich immer das, was man tut, auf allen Ebenen seiner Persönlichkeit tut, d.h. sich nicht nur physisch wäscht und reinigt, sondern gleichzeitig auch im psychischen und mentalen Bereich. Dazu braucht es ein bisschen Vorbereitung, denn ich muss mir ja zuerst einmal bewusst werden, was ich reinigen oder wegwaschen will. Vielleicht das allmorgendliche Selbstmitleid, weil ich zu wenig Schlaf hatte und aufstehen muss, die Trägheit, meine Launenhaftigkeit … Jede/r kennt sich selbst am besten und weiß, in welchem Bereich Reinigung und Waschen notwendig ist.
Hierzu brauchen wir vielleicht etwas mehr Zeit, müssen vielleicht ein paar Minuten früher aufstehen als sonst. Doch wenn wir den Tag in Ruhe und ohne Stress beginnen, wird sich diese Stimmung, dieses innere Bewusstsein vielleicht über den ganzen Tag ausdehnen lassen. Wir dürfen den magischen Moment des Anfangs, des Beginns nicht missachten. In der vorigen Folge erzählte ich, dass es in allen spirituellen Lebensformen Sitte war und ist, den Tag, die Sonne mit einem Gebet, einem Ritual zu begrüßen, mit Klang, einem Opfer, Räucherwerk und Duft, heiligen Gebärden. Die Dunkelheit ist besiegt worden, die Sonne mit ihrer Lebenskraft und Energie setzt ihre Bahn fort: nicht hektisch, sondern langsam, aber unerbittlich.
Wenn wir die spirituellen Gemeinschaften der Gegenwart und Vergangenheit betrachten, merken wir, dass der Beginn jeder neuen Unternehmung mit Bewusstsein begangen wurde und wird. Hermann Hesse sagt in seinem schönen Gedicht „Die Stufen“: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt, und der uns hilft zu leben…“
Ein Tag ist ein neues Unternehmen. Dafür müssen wir uns wappnen und reinigen. Auch die körperliche und geistige Hygiene sind im spirituellen Bereich von großer Wichtigkeit. Reinheit in Gedanken und Gefühlen ist ein wichtiges Gebot. Reinheit erreicht man durch Reinigung, und durch das Reinigen bzw. das Waschen des physischen Körpers können wir auf besondere Weise – wenn wir es mit Bewusstsein tun – auch die subtileren Bereiche der Persönlichkeit waschen.
Das heilige Bad spielt deshalb im kultischen Bereich aller Kulturen ein große Rolle und ist aus keinem bedeutsamen Ritual wegzudenken. In allen Mysterienkulten, bei Einweihungen oder der Taufe gilt: Das Wasser hat eine heilende und heiligende Funktion und ist Träger des Lebens. Bei den Mysterien von Eleusis fand ein kultisches Reinigungsbad im Meer statt, die Pythia in Delphi musste vor jeder Orakeltätigkeit ein Bad in einer besonderen heiligen Quelle nehmen, die man heute noch besichtigen kann. In den Kultstätten Altamerikas finden wir Grotten oder spezielle „Badetempel“ für die Priesterinnen oder Priester. Das Bad im Ganges ist bis heute eine der wichtigsten heiligen Handlungen der Inder. Und diese Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen. Bis heute wird im Christentum die Taufe mit Wasser praktiziert – ein Ritus, der von anderen Kulten übernommen wurde.
Es geht hier nicht nur um die reinigende Kraft des Wassers, sondern auch um seine ganz besondere Fähigkeit als Träger des Lebens. Hildegard von Bingen verordnete das Trinken frischen Quellwassers als Medizin. Und die modernsten wissenschaftlichen Untersuchungen weisen heute wieder nach, dass das Quellwasser tatsächlich eine Leben spendende und energetisierende Wirkung hat.
Wir sehen also immer wieder, dass hinter den Lebensregeln und Weisheiten tatsächlich ein tiefes Wissen um die verborgenen Zusammenhänge der Natur und des Menschen steckt. Vor langen Zeiten war der Umgang mit den subtileren Kräften selbstverständlich und hatte eine ganz natürliche Auswirkung auf den Alltag. Wir müssen uns dieses Wissen wieder schrittweise zurückerobern und die einst selbstverständlichen Dinge für uns neu beleben.
Echte Inspiration beim Bad wünscht Ihnen
Gudrun Gutdeutsch &
Treffpunkt Philosophie Zürich
Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen
Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend verbessern zu können, verwenden wir Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu.