Haben Sie sich schon einmal gefragt, ob es möglich ist, den Sinn der Philosophie zu definieren? Alle Einzelwissenschaften haben einen klar bestimmten Aufgabenbereich. Gilt das auch für die Philosophie? Oder anders gefragt: Wann hört Philosophie auf Philosophie zu sein und wie vielfältig ist sie wirklich? Dies sind strittige metaphilosophische Fragen. Doch letztlich kann auch der Verweis auf die institutionalisierte „akademische“ Philosophie keine endgültigen Antworten darauf liefern. Gerade dieser Aspekt wird sehr oft übersehen.
… beziehen sich auf Wesen, Sinn und Zweck dessen, was wir „Philosophie“ nennen. Dazu gehören Fragen wie: Gibt es nur eine einzige Philosophie oder gibt es so viele Philosophien, wie es Philosophen gibt? Wie real ist Philosophie überhaupt, sofern es nur eine einzige, „wahre“ Philosophie gibt? Was ist der Kern der Philosophie, sofern sie echte Philosophie ist? Welche Bedeutung hat Philosophie für den Menschen jenseits von Wissenschaft? Ist Philosophie immer nur eine Sache des Denkens oder ist sie auch eine Sache des Handelns? Ist die Philosophie selbst eine Lehre oder ist sie bloß eine bestimmte Methode der Analyse und Reflexion? In Bezug auf all diese Fragen haben philosophische Strömungen bisher höchst unterschiedliche Akzente gesetzt.
Philosophie kann man sowohl auf historischem, sprachphilosophischem als auch auf akademisch-disziplinärem Wege zu verstehen versuchen. Dies sind 3 verschiedene Zugänge, die zwar an sich noch keine speziellen Antworten auf jene Fragen liefern, sehr wohl aber als argumentativer Ausgangspunkt dienen können.
Die sprachanalytische Methode befasst sich mit der Verwendungsweise des Begriffs in verschiedenen Kontexten. Hier wird bereits deutlich, dass es bis heute keinen allgemein akzeptierten Mittelweg zwischen einem viel zu eng und einem viel zu weit gefassten Verständnis von Philosophie gibt.
Der akademische Zugang repräsentiert das „enge“ Verständnis von Philosophie. Aus dieser Sicht gibt es 3 Standorte der Philosophie zur Wissenschaft, nämlich als Integrations-, Residual- und Orientierungswissenschaft. Die Philosophie ist Integrationswissenschaft, sofern sie dazu beiträgt, die verschiedenen Befunde der Einzelwissenschaften zu einem kohärenten, wissenschaftlichen Weltbild zusammenzufügen. Sie ist Residualwissenschaft, sofern sie sich mit wissenschaftlich noch ungeklärten Fragen beschäftigt und versucht, Wege aufzuzeigen, diese zu klären (z.B. das Leib-Seele Problem oder das Problem des freien Willens). Und sie ist Orientierungswissenschaft, sofern sie sich mit lebenspraktischen Orientierungsfragen beschäftigt. Den lebenspraktischen Aspekt hat die akademische Philosophie heute weitgehend abgestreift, da sie im Interesse der Profilierung als reine Wissenschaftsdisziplin keinen Gesichtsverlust riskieren möchte. Nach Auffassung vieler moderner Philosophen ist das Ziel der Philosophie, sich in den Wissenschaften selbst aufzuheben, indem sie ein Gebiet nach dem anderen an die Einzelwissenschaften abtritt. Ihre Aufgabe ist damit die Vorbereitung und Verteidigung von Wissenschaft sowie die strikte Abgrenzung wissenschaftlicher von nicht-wissenschaftlicher Welterklärung.
Der historisch-kulturelle Zugang berücksichtigt die vielfältigen historischen Erscheinungsformen der westlichen wie auch östlichen Philosophie. Er umfasst selbstverständlich nicht nur die neuzeitliche Entwicklung der Philosophie seit Wittgenstein. Wer sich ernsthaft nicht nur im europäisch-nordamerikanischen Kontext mit der Geschichte der Philosophie befassen will, muss sich auch mit Philosophen vor Wittgenstein auseinandersetzen (was gerade der akademischen Philosophie im englischsprachigen Raum schwerfällt). Zwar beinhaltet allein die neuzeitliche Philosophie in Europa ein buntes Spektrum verschiedenster Strömungen, wie etwa den deutschen Idealismus, den Marxismus, die Hermeneutik, die Phänomenologie, den Existenzialismus, den Kritischen Rationalismus usw. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Philosophie auch schon vorher bedeutsame kulturelle Wirkungen entfaltete (etwa wie in Indien und China). Die Philosophie war einmal eine bedeutsame kulturelle Kraft, die gesellschaftliche Entwicklungen wesentlich mittrug (etwa zur Aufklärungszeit im 18.Jh.). Sie hat dabei mitunter Funktionen übernommen, die heute seltsam erscheinen mögen. So war etwa Ethik einmal eine wirklich praktische Angelegenheit, die auf das Handeln zielte und nicht allein auf die Theorienbildung. So galt von der Antike bis in die Neuzeit das richtige Handeln als das Ziel der Ethik. Seit G.E. Moore, dessen Lehrstuhl in Cambridge nach ihm Wittgenstein übernahm, gilt diese Ansicht als überholt. „Die direkte Aufgabe der Ethik ist das Wissen und nicht die Praxis“ erklärte Moore in dessen Principia Ethica.
In einem Reclam-Band mit dem Titel: „Was ist Philosophie? ist in der Einleitung zu lesen: „Um die Bedeutung des Wortes Philosophie entbrennt in der Philosophie regelmäßig ein Streit. Der eine spricht dem anderen ab, dass dessen Verständnis noch in den Rahmen der Philosophie gehört. Für den einen gehören die Probleme des Lebens in die Philosophie, für den anderen nur die Probleme der Wissenschaftslogik… Häufig bricht das Gespräch ab und man erklärt sich gegenseitig für unphilosophisch… Bisher konnte sich keine einzige Philosophie als die letzte und endgültige durchsetzen, auch wenn der Anspruch immer wieder erhoben worden ist.“ Der Eindruck, die einzig „wahre“ Philosophie endgültig begründet zu haben, war besonders im deutschen Idealismus, namentlich nach Hegel stark verbreitet. Das „Ende der Philosophie“ schien noch im 19. und 20. Jh. mancherorts eine klare Sache zu sein, da oft angenommen wurde, dass große Philosophie nach Hegel in Wahrheit nicht mehr möglich sei. Davon unbeeindruckt machten sich im 20. Jh. die Pioniere der modernen Analytischen Philosophie an ihr Werk, wofür zunächst vor allem die wissenschaftliche Weltauffassung des Wiener Kreises und die auf Mathematik und Logik fokussierten Arbeiten Gottlob Freges, Ludwig Wittgensteins und Bertrand Russells tonangebend waren. Wer die moderne akademische Philosophie in ihrem Selbstverständnis verstehen will, sollte sich besonders mit letztgenannten Protagonisten auseinandersetzen[1]. Anfangs wurde bevorzugt attestiert, dass die gesamte Philosophie bis heute keine eindeutigen Fortschritte vorzuweisen habe. Auch wurde geglaubt, dass die meisten philosophischen Probleme im Grunde Scheinprobleme seien, die sich bei genauerer logischer Analyse als solche entlarven ließen (Moritz Schlick, Rudolf Carnap). Diese wurden bevorzugt als „metaphysisch“ gebrandmarkt, was so ziemlich alles umfasste, das sich weder logisch präzise sagen lässt noch naturwissenschaftlich erklärt werden konnte. Die Vertreter des Wiener Kreises mussten in den 30er-Jahren vor den Nazis fliehen und begründeten schließlich in den USA die sogenannte „Analytische Philosophie“. Seitdem fragt die Philosophie nicht mehr nach dem Guten, dem Sinn des Lebens, nach Gott oder der Natur des Menschen, weil sich darüber angeblich nichts Sinnvolles sagen lässt.
Herbert Schnädelbach, ehemaliger Professor für Philosophie in Berlin, gewann 2012 den hoch dotierten Tractatus-Preis für sein Buch „Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann“. In der Einleitung schreibt er: „Wenn etwas dran ist an der These von der Amerikanisierung der Philosophie, dann ist es die Beobachtung, dass sich die Philosophie in Europa – durch fortgesetzte Verwissenschaftlichung – zu dem Orchideenfach zurückbildet, das sie in den USA immer schon war. In der Alten Welt war die Philosophie gerade auch der großen Denker immer auch eine Stimme im gesamtkulturellen Diskurs gewesen; diese exoterische Rolle hat unser Fach weitgehend eingebüßt, denn es hat sich fast völlig in die Esoterik einer professionalisierten Fachdisziplin hineindrängen lassen, aus der wichtige Beiträge zu den großen Orientierungsproblemen der nachdenklichen Menschen nicht länger zu erwarten sind.“
Nach Wittgenstein dient Philosophie allein dazu, Klarheit zu finden. Eine logische Idealsprache soll den Wissenschaften eine analytische Grundlage liefern. Die Philosophie muss demnach über sprachliche Missverständ-nisse aufklären, bis wir zu den „Auffassungen des gesunden Menschenver-standes“ gelangen. Letztere waren für Wittgenstein jene der Naturwissenschaften. Genau in diesem Bemühen, die Philosophie möglichst nahe an die naturwissenschaftliche Weltsicht heranzuführen und sie von allen „Scheinproblemen“ zu befreien, folgten ihm nahezu alle modernen Philosophen. Was dann von der so verstandenen Philosophie noch übrig bleibt, sind gewisse Kernkompetenzen, auf die eine „sinnvolle“ Beschäftigung mit Philosophie zunehmend reduziert wurde: Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie und Logik. Es ist dagegen etwas völlig anderes, eigene moralische Überzeugungen als Ausgangspunkt für ein persönliches, öffentlich wirksames Engagement zu wählen, bei dem man ernsthaft versucht Menschen zu erreichen, um mit ihnen auf möglichst sachliche Weise drängende Probleme zu diskutieren. Viele Philosophen haben bislang im Interesse gesellschaftlicher Entwicklung gewirkt, auch ohne dabei Geld zu verdienen. Man denke hier an Erasmus von Rotterdam, Rousseau, Voltaire, Kierkegaard, Jean-Paul Sartre usw., deren Engagement aus heutiger Sicht leicht als „unphilosophisch“ gelten könnte. Diese Philosophen arbeiteten nicht nur für ein abstraktes wissenschaftliches System. Es ist sehr wohl möglich, Probleme in eine Sprache zu übersetzen, die für jedermann verständlich ist. Doch dazu braucht es Philosophen, die diese Übersetzungsarbeit leisten.
Vielen Menschen heute erscheint die moderne akademische Philosophie so lebensfern wie die Beschäftigung mit Astrophysik. In der gesamten mittelalterlichen und antiken Philosophie war es undenkbar, Themen wie Gott oder eine auf das Handeln abzielende Ethik aus dem philosophischen Diskurs auszuschließen. Der Primat der praktischen vor der theoretischen Vernunft war etwa in der Stoa oder im Epikureismus selbstverständlich. Philosophen wurden an ihrer Lebensführung erkannt und Philosophie wurde nicht selten als ein lebenslanges Üben einer bestimmten ethischen Praxis verstanden. Dies erfordert echte Arbeit an sich selbst, die aus heutiger akademischer Sicht überhaupt gar nichts mit Philosophie zu tun hat. Doch nur durch ein solches Einüben charakterlicher Festigkeit können vorbildliche Persönlichkeiten hervorgehen, wie sie uns heute fehlen. Marcus Tullius Cicero oder Marcus Aurelius sind hervorragende Beispiele dafür. Nur die wenigsten können sich heute noch daran erinnern.
Beitrag von Manuel Stelzl
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Literatur
Spektrum der Wissenschaft: BREUER, Reinhard; Julian NIDA-RÜMELIN: 2011. Auszug aus dem Elfenbeinturm. Spektrum der Wissenschaft (Heidelberg) 3/2011, p. 56-61.
EHLEN, Peter; Gerd HAEFFNER; Frido RICKEN: 2010: Philosophie des 20. Jahrhunderts. 3. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer, p. 264-273.
HÖFFE, Otfried: 2006. Aristoteles. München: C.H. Beck (Beck’sche Reihe Denker 535), p. 191.
SALAMUN, Kurt (Hg.): 2001. Was ist Philosophie? 4. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck, p. 1-39.
SCHNÄDELBACH, Herbert: 2013. Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann. München: C.H.Beck, 236.
ELBERFELD, Rolf (Hg.): 2008. Was ist Philosophie?. Programmatische Texte von Platon bis Derrida.Stuttgart: Reclam, p. 13-14
[1] Auch Schlagwörter wie Neopositivismus und Szientismus zu analysieren ist zu diesem Zweck sehr hilfreich.
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